Abgasskandal: EuGH stärkt Rechte von Diesel-Klägern – BGH verhandelt am 08.05.2023 über die Umsetzung

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Mit Urteil vom 21.03.2023 hat der Europäische Gerichtshofs (EuGH, Az. C-100/21) in einem Vorlageverfahren des Landgerichts Ravensburg entschieden, dass Käufer eines Dieselfahrzeugs mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung gegen den Fahrzeughersteller einen Anspruch auf Schadensersatz haben, wenn dem Käufer durch diese Abschalteinrichtung ein Schaden entstanden ist (Az. C-100/21).

Nach Ansicht des EuGH schützt das Unionsrecht neben allgemeinen Rechtsgütern auch die Einzelinteressen des individuellen Käufers eines Kraftfahrzeugs gegenüber dessen Hersteller, wenn dieses Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist. Damit senkt der EuGH die Hürden für Schadenersatzklagen von Dieselkäufern, wenn deren Fahrzeuge mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet sind. Die Autohersteller haften auch dann, wenn die Hersteller ohne Betrugsabsicht einfach nur fahrlässig gehandelt haben.

Die aktuelle Entscheidung des EuGH bedeutet ein mögliches wirtschaftliches Fiasko für die Autoindustrie in Form einer neuen Klagewelle. Denn eine Haftung wegen bloßer Fahrlässigkeit hat der Bundesgerichtshof (BGH) bislang durchgehend abgelehnt. Eine Vorlage an den EuGH verweigerte der BGH mit der Begründung, die Rechtslage sei eindeutig (acte clair), so dass es keiner Vorlage bedürfe. Allerdings legte das LG Ravensburg die Rechtsfrage dem EuGH vor, der nunmehr im Sinne der betroffenen Dieselkäufer entschied.

Der BGH hatte bislang nur dann einen deliktischen Schadensersatzanspruch der Käufer anerkannt, wenn die Abschalteinrichtung mit einer Prüfstandserkennung verknüpft ist, die Motorsteuerungssoftware also bei erkanntem Prüfstandsbetrieb auf „sauber“ und im normalen Straßenverkehr auf „schmutzig“ schaltet. In einer solchen mit einer Prüfstandserkennung versehenen Abschalteinrichtung sah der BGH eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung (§ 826 BGB).

Bei Fahrzeugen mit sogenannten Thermofenstern, in denen die Abgasreinigung bei in Deutschland völlig üblichen Temperaturen ganz oder teilweise ausgeschaltet wird, hat der der BGH bislang eine sittenwidrige Schädigung der Hersteller abgelehnt, weil die Annahme von Sittenwidrigkeit in diesen Fällen voraussetze, dass die verantwortlichen Personen der Fahrzeughersteller bei der Entwicklung in dem Bewusstsein gehandelt hätten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen. Diese Voraussetzung vermochte der BGH bislang nicht feststellen und verwies dabei zur Begründung unter anderem auf die unsichere Rechtslage zur Legalität von Thermofenstern. Insoweit sei nur ein Fahrlässigkeitsvorwurf gerechtfertigt (BGH Urt. v. 16.09.2021 - VII ZR 190/20, Rn. 36).

Ein Schadensersatzanspruch wegen fahrlässig verbauter illegaler Abschalteinrichtung kam für den BGH aber bislang nicht in Betracht. Denn nach § 823 BGB in Verbindung mit einem Schutzgesetz ist ein Schadensersatzanspruch auch ohne Vorsatz, also bei fahrlässigen Handeln der Hersteller, wenn dieses Schutzgesetz drittschützend ist. Der BGH hat aber der unionsrechtlichen Vorschrift des Art. 5 Abs. 2 EG-Verordnung 715/2007, die Automobilhersteller die Verwendung von Abschalteinrichtungen verbietet, den drittschützenden Charakter abgesprochen. Nach Ansicht des BGH bezwecke diese Regelung keinen Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit und speziell des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts der einzelnen Käufer (BGH Urt. v. 16.09.2021 - VII ZR 190/20, Rn. 43).

Der EuGH hat aber mit seiner Entscheidung vom 21.03.2023 (Az. C-100/21) entschieden, dass das Unionsrecht eine unmittelbare Verbindung zwischen dem Automobilhersteller und dem individuellen Käufer eines Kraftfahrzeugs herstelle. Mit der EU-Übereinstimmungsbescheinigung, die dem Käufer nach der EU-Richtlinie auszuhändigen ist, werde diesem bestätigt, dass das Fahrzeug rechtskonform hergestellt wurde und insbesondere keine unzulässige Abschalteinrichtung enthalte. Die EU-Übereinstimmungsbescheinigung schütze den individuellen Käufer vor Pflichtverletzungen des Herstellers, also auch dem Einbau einer unzulässigen Abschalteinrichtung. Die Mitgliedstaaten müssten daher vorsehen, dass Käufer eines mit einer illegalen Abschalteinrichtung versehenen Fahrzeugs gegen den Hersteller einen Anspruch auf Schadensersatz hat.

Die deutschen Gerichte werden nunmehr diese Vorgaben des EuGH umzusetzen haben. Der BGH hat hierzu für den 8. Mai 2023 drei Verfahren (VIa ZR 335/21, VIa ZR 533/21 und VIa ZR 1031/21) angesetzt, in denen er die Folgerungen aus der Entscheidung des EuGH vom 21. März 2023 (C-100/21) in "Dieselverfahren" erörtern wird.

Das Ursprungsverfahren zu der Sache VIa ZR 533/21 wurde durch MÜLLER SEIDEL VOS Rechtsanwälte Steuerberater geführt. Wir werden daher die Verhandlung vor dem BGH am 8. Mai 2023 vor Ort begleiten und über den Ausgang berichten.

MÜLLER SEIDEL VOS Rechtsanwälte haben bislang über 3.000 geschädigte Dieselbesitzer aus dem gesamten Bundesgebiet vertreten. Die Erfolgsquote unserer Schadenersatzklagen gegen VW und andere Autohersteller wegen des Abgasbetrugs liegt dabei über 96%. Zudem führt die Kanzlei Klagen für private und institutionelle Investoren gegen den VW-Konzern wegen pflichtwidrig unterlassener Kapitalmarktinformationen und ist an den Musterverfahren vor dem OLG Braunschweig und dem OLG Stuttgart beteiligt. In dem renommierten JUVE Handbuch 2017/2018, 2018/2019 und 2019/2020 wird die Kanzlei in der Rubrik Konfliktlösung - Dispute Resolution, gesellschaftsrechtliche Streitigkeiten besonders empfohlen für den Bereich Kapitalanlageprozesse (Anleger).

Foto(s): Müller Seidel Vos Rechtsanwälte


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