Fallstricke im US-Zivilprozessrecht, speziell bei der Pretrial Discovery

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Um es vorwegzunehmen:

Ein Zivilprozess in den USA läuft vollständig anders als in Deutschland. Es gibt keine Parallelen zwischen dem Rechtsstreit vor einem deutschen Gericht und einem Zivilprozess in den Staaten.


Nach meinen Erfahrungen haben Privatpersonen, aber auch Unternehmer aus Deutschland, die seit langem in den USA tätig sind, komplett falsche Vorstellungen über Ablauf und Risiken eines Zivilprozesses in den USA. Gleiches gilt meist auch für ihre juristischen Berater.


Dies ist kein Wunder, denn unsere Vorstellung vom US-amerikanischen Zivilprozess resultiert meist auf US-Anwaltsserien aus Hollywood mit Kultstatus, zum Beispiel Suits oder Boston Legal. Diese sind nicht darauf angelegt, dem Zuschauer die Law School zu ersetzen, sondern darauf, ihm eine spannende Story zu erzählen und damit eine gute Einschaltquote zu erzielen.


Es ist aber Anlass zur Sorge. Schließlich ist der Eintritt in den US-Markt für deutsche Unternehmen mit dem permanenten Risiko verbunden, selbst in den USA verklagt zu werden, zum Beispiel aus Produkthaftung. Ein solcher Prozess kann die Tochtergesellschaft in den USA, aber auch die deutsche Konzern-Mutter schnell an den Rand der Insolvenz treiben. 


Auch Privatleute können in Zeiten der Globalisierung leicht in einen Zivilprozess vor einem US-Gericht verstrickt werden.


Deshalb werde ich zuletzt immer öfter von den unterschiedlichsten Unternehmen und Privatleuten darum gebeten, ihnen die besonderen Risiken und Fallstricke eines realen Zivilprozesses in den USA zu erklären.


Vielen ist noch nicht einmal bekannt, dass es in den USA nicht wie in Deutschland ein einheitliches Zivilprozessrecht gibt, sondern dass dies in allen 50 US-Bundesstaaten unterschiedlich geregelt ist. Das bedeutet, dass ein Zivilprozess im US-Bundesstaat New York vollkommen anders verlaufen kann als in Texas oder Florida. 


Die gravierendsten Unterschiede zu Deutschland resultieren aus der anders ausgerichteten Struktur des Zivilprozesses in den USA.


Nach deutschem Recht muss der Kläger dem Gericht bereits in seiner Klageschrift eine vollständige und lückenlose Darstellung des Sachverhalts nebst Beweismitteln vorlegen. Er muss eine „schlüssige“ Klage einreichen, auf die der Beklagte mit seinen Einwendungen erwidern kann.


Im Ergebnis bedeutet dies, dass der Kläger bereits zum Zeitpunkt der Einreichung der Klage alle entscheidungsrelevanten Tatsachen kennen und dem Gericht vortragen muss. Schafft er dies nicht, läuft er Gefahr, dass seine Klage vom Gericht als „unschlüssig“ abgewiesen wird.


Die Ausgangssituation des Klägers in Deutschland unterscheidet sich damit grundlegend von derjenigen eines Klägers in den USA.


In den USA ist es nicht erforderlich, bei Gericht eine „schlüssige“ Klage einzureichen. Damit ist der Kläger in den USA auch nicht darauf angewiesen, bereits zu diesem Zeitpunkt sämtliche entscheidungsrelevanten Einzelheiten „seines Falles“  zu kennen und dem Gericht mitzuteilen.


Deshalb sind Klageschriften für einen Zivilprozess in den USA sehr viel kürzer als in Deutschland. Sie beschränken sich meist darauf, den Gegner von der Einleitung des Rechtsstreits in Kenntnis zu setzen und ihm den Grund für die Klageeinreichung mitzuteilen.


Die Aufklärung des Sachverhalts und alle Beweisangebote (Zeugen, Urkunden, Sachverständigengutachten etc.) bleiben der Pretrial Discovery vorbehalten.


Die Pretrial Discovery ist das eigentliche Herzstück eines US-amerikanischen Zivilprozesses. Sie ist das Stadium, in dem die meisten Rechtstreitigkeiten erledigt werden.


Die Pretrial Discovery ist dem deutschen Zivilprozessrecht vollständig unbekannt.


Sie verschafft beiden Parteien die Möglichkeit, gemeinsam alle Einzelheiten des streitgegenständlichen Sachverhalts zu ermitteln.


Die Pretrial Discovery wird nicht vor Gericht durchgeführt. Sie liegt ausschließlich im Verantwortungsbereich der Parteien und ihrer jeweiligen Anwälte. Diese treffen sich zu ihrer Durchführung – ohne Beteiligung des Gerichts – an einem zuvor vereinbarten Ort, zumeist in den Kanzleiräumen der Anwälte einer der Parteien.


Möglich ist aber auch die Vereinbarung eines anderen Ortes, der auch im Ausland liegen kann. Ich selbst habe vor einiger Zeit an einem mehrtägigen Termin zu einer Pretrial Discovery um Produkthaftung in einem Hotel direkt auf dem Flughafen London Heathrow teilgenommen. Dorthin wurden alle relevanten Zeugen mit Wohnsitz in Europa geladen, um auf diese Weise unnötige Reisekosten in die USA einzusparen.


Der Rechtsstreit selbst war jedoch bei einem Gericht an der Ostküste der USA anhängig.


Die Tatsache, dass die Parteien den entscheidungserheblichen Sachverhalt „gemeinsam“ aufklären, darf nicht zu der Annahme verleiten, dass die Parteien dabei partnerschaftlich vorgehen. Diese Vorstellung wäre falsch.


Tatsächlich gehen die Parteien im Rahmen der Pretrial Discovery alles andere als zimperlich miteinander um. Die Atmosphäre gleicht oft mehr derjenigen in einer Boxarena als der in einer Gerichtsverhandlung.


Vor allem große Unternehmen lassen sich meist von Anwälten vertreten, die darauf spezialisiert sind, in einer Pretrial Discovery rücksichtslos das bestmögliche Ergebnis für ihre Mandantschaft durchzusetzen. Sie nutzen alle erdenklichen Finten und Tricks, um die Gegenseite in die Irre zu führen und so dazu zu zwingen, entweder ihre Position ganz aufzugeben oder einem für sie nachteiligen Vergleich zuzustimmen. Sie schrecken dabei auch vor massiven persönlichen Angriffen und Verunglimpfungen der Gegenpartei nicht zurück. 


Ich selbst habe in mehreren Pretrial Discovery-Verfahren erlebt, wie die gegnerischen Anwälte meine Mandantschaft kräftig „in die Mangel genommen“ haben. Glücklicherweise ist es meinen Kollegen und mir jeweils gelungen, diesen Angriffen standzuhalten und die Verfahren zu einem für die Mandantschaft guten Ergebnis zu führen. Hierfür sind jedoch langjährige Erfahrungen mit dem US-amerikanischen Zivilprozessrecht und intime Kenntnisse des auf den Fall anwendbaren Beweisrechts erforderlich.


Fehlt es hieran, läuft man Gefahr, der Gegenseite in die Falle zu gehen – oft sogar ohne, dass man es merkt!


Zur Ermittlung des streitrelevanten Sachverhalts steht beiden Prozessparteien ein umfangreicher Katalog von Maßnahmen zur Verfügung:


Das wichtigste Mittel der Discovery sind die depositions.


Dies sind mündliche Fragen an die Gegenpartei oder Zeugen, die diese jeweils unter Eid beantworten müssen. Sie werden mit Vorliebe dazu genutzt, Widersprüchlichkeiten in der Sachverhaltsdarstellung des Gegners aufzudecken. Dabei geht es oft sehr ruppig zu. Eine Rücksichtnahme auf die Privatsphäre des Gegners oder seine persönlichen Befindlichkeiten kann man dabei nicht erwarten.


Sollte ein Zeuge zu einem Discovery-Termin nicht erscheinen, wird er mittels gerichtlicher Verfügung durch die Polizei vorgeführt.


Die Antworten auf die von den Anwälten gestellten Fragen werden Wort für Wort protokolliert. Sie sind Grundlage der späteren Verhandlung vor Gericht. Oft erfolgt zusätzlich noch eine Videoaufzeichnung.


Daneben kann jede Partei der anderen vor dem Termin der Pretrial Discovery schriftlich bis zu 25 Fragen stellen, die diese schriftlich unter Eid zu beantworten hat.


Diese Maßnahme ist sehr gefährlich, weil sie häufig dazu genutzt wird, der Gegenpartei ausufernde Fragen zu stellen, die weit über den eigentlichen Streitgegenstand hinausgehen. Sie werden oft dazu missbraucht, Betriebsgeheimnisse der Gegenseite auszuforschen. Gleichwohl müssen sämtliche Fragen komplett beantwortet werden. Die befragte Partei kann sogar dazu verpflichtet sein, eigene umfangreiche Nachforschungen anzustellen, so weit dies erforderlich ist, die gestellten Fragen vollständig zu beantworten.


Für beide Parteien ist es unverzichtbar, sich in diesem gefährlichen Verfahrensstadium bei der Ausformulierung ihrer Fragen und Antworten von spezialisierten Anwälten vertreten zu lassen, die über exzellente  Erfahrungen mit der Pretrial Discovery verfügen. 


Ein wichtiger Bestandteil der Pretrial Discovery sind auch die eingereichten Beweisurkunden. Regelmäßig wird jede Partei einen ganzen Stapel von eigenen Dokumenten vorlegen, die die Richtigkeit ihrer Sichtweise des Falles belegen sollen. 


Anders als nach deutschem Recht kann aber jede Partei in einem Rechtsstreit in den USA auch die Gegenseite dazu zwingen, jegliche Unterlagen, die für diese unvorteilhaft sind, offenzulegen. Dies kann sich als ausgesprochen lästig erweisen.


Seit einigen Jahren ist zudem auch die e-discovery zulässig. Über sie kann die Gegenseite dazu gezwungen werden, ganze Datenbanken einschließlich solcher Daten, die bei verbundenen Unternehmen, zum Beispiel Tochter- oder Muttergesellschaften, gespeichert sind, freizugeben. Dies kann sich im Extremfall auch auf die Offenlegung der gesamten konzerninternen E-Mail-Korrespondenz für einen bestimmten Zeitraum beziehen.


Die Erfahrung zeigt, dass mit der Einführung der e-discovery die Gefahren, die speziell für die beklagte Partei mit einem Rechtsstreit in den USA verbunden sind, eine vollkommen neue Dimension erreicht haben.


Zwar mussten die Parteien dem jeweiligen Gegner auch früher kistenweise Unterlagen zur Verfügung stellen, deren erzwungene Vorlage oft schmerzlich war, weil es sich bei ihnen um jahrelang gehütete Geschäftsgeheimnisse gehandelt hat.


Gleichwohl waren diese der Menge noch überschaubar, was die Risiken des Rechtsstreits insofern kalkulierbar machte.


Während also früher die zur Offenlegung aufgeforderte Partei mitunter eine LKW-Ladung von Dokumenten offenlegen musste, die jedoch nur einen Teil der betriebsinternen Unterlagen umfasste, läuft sie im Rahmen der e-discovery Gefahr, sämtliche Geschäftsgeheimnisse preisgeben zu müssen – allerdings komprimiert auf einem USB-Stick. 


Mit der Einführung der e-discovery läuft das beklagte Unternehmen im Rahmen der Pretrial Discoverydementsprechend Gefahr zu einem „gläsernen Unternehmen“ zu werden, wenn es vom Kläger gezielt dazu gezwungen wird, nahezu seine gesamten digital gespeicherten konzerninternen Daten offenzulegen.


Deutschen Unternehmen, die sich auf dem US-Markt engagieren, ist deshalb dringend davon abzuraten, sich erst nach Zustellung einer Klage aus den USA eine auf das US-Zivilprozessrecht spezialisierte Anwaltskanzlei zu suchen. 


Dieser Zeitpunkt wäre deutlich zu spät!


Vorzuziehen ist demgegenüber die vorausschauende Konsultation durch einen Rechtsanwalt, der sich mit der Führung von Rechtsstreitigkeiten in den USA, einschließlich der Pretrial Discovery bestens auskennt und über entsprechende Erfahrungen verfügt, um bereits zu einem Zeitpunkt, in dem ein Rechtsstreit in den USA noch überhaupt nicht in Sicht ist, die notwendigen Vorkehrungen dafür zu treffen, dass man auf einen möglichen Rechtsstreit einschließlich Pretrial Discovery in den USA ausreichend vorbereitet ist.


Eine Maßnahme ist dabei von vornherein tabu:


Es dürfen keinesfalls irgendwelche Beweisstücke vernichtet werden, nachdem eine Klage zugestellt worden ist oder von der Gegenseite auch nur mit der Einreichung einer Klage gedroht worden ist.


Dies würde in den USA als eine Missachtung des Gerichts gewertet werden mit der Konsequenz eines vollständigen Unterliegens im Prozess.


Überdies ist es als Beweisvereitelung strafbar und kann schlimmstenfalls zu einer Haftstrafe des Führungspersonals der beklagten Partei führen. Es ist deshalb dringend davon abzuraten, nach Klageeinreichung oder im Zeitraum kurz davor irgendwelche digitalen Inhalte zu löschen.


Wegen der sehr weitgehenden Ausforschungsbefugnisse der Gegenpartei steht die beklagte Partei im Rahmen der Pretrial Discovery oft mit dem Rücken zur Wand. Hinzu kommt der enorme Kostendruck, denn die Prozessführung in den USA ist um ein Vielfaches teurer als in Deutschland.


Aus diesem Grunde besteht in den USA eine sehr viel größere Vergleichsbereitschaft als in Deutschland. Die meisten Rechtsstreitigkeiten werden deshalb spätestens im Stadium der Pretrial Discovery durch Vergleichsschluss beendet.


Hinsichtlich der Kosten der Prozessführung besteht noch ein weiterer gravierender Unterschied zu Deutschland:


In den USA muss jede Partei die Kosten der Prozessführung selbst tragen. Anders als in Deutschland hat die obsiegende Partei keinen Rechtsanspruch auf Erstattung ihrer Prozessführungskosten durch die unterliegende Partei.














Foto(s): Dr. Jürgen Rodegra


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