Fiktive Karriere eines behinderten Kindes

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Einleitung:

In dem von unserer Kanzlei betreuten Fall wurde ein neugeborenes Mädchen bei der Geburt über eine längere Zeit sauerstoffunterversorgt. Die Eltern, auch gleichzeitig Betreuer des Kindes, erstritten in langwierigen Verfahren in der II. Instanz ein Urteil, welches einen groben Behandlungsfehler des behandelnden Arztes feststellte und verurteilte den Träger des Krankenhauses sowie den behandelnden Arzt zur Zahlung von Schmerzensgeld und weiteren materiellen Schäden. Gleichzeitig wurde im Rahmen des Urteils auch festgestellt, dass die Schädiger als Gesamtschuldner auch für künftige immaterielle und materielle Schäden einzustehen haben.

Verfahren:

Das Kind ist nunmehr eine junge Erwachsene, geistig und körperlich schwerstbehindert. Sie könnte jedoch, wenn bei der Geburt alles nach den Regeln der ärztlichen Kunst verlaufen wäre, bereits am Anfang ihres Erwerbslebens stehen. Der Bundesgerichtshof erlaubt, dass auf Basis von Schätzungen und Prognosen auch in solchen Fällen ein hypothetischer Erwerbsschaden in Form eines Verdienstausfallschadens verlangt werden kann (BGH, Urteil vom 05.10.2010, VI ZR 186/08 m.w.N.). Auch wenn eine solche Prognose wie im vorliegenden Fall rein fiktiv ist, dürfen nach Auffassung des Bundesgerichtshofes hieran keine zu hohen Anforderungen gestellt werden. Dies gilt vor allem dann, wenn das haftungsauslösende Ereignis den Geschädigten zu einem Zeitpunkt getroffen hat, als er noch in der Ausbildung oder am Anfang seiner beruflichen Entwicklung stand und deshalb noch keine Erfolge in der von ihm angestrebten Tätigkeit nachweisen kann.

Trifft das Schadenereignis ein jüngeres Kind, über dessen berufliche Zukunft auf Grund des eigenen Entwicklungsstandes zum Schadenszeitpunkt noch keine zuverlässige Aussage möglich ist, darf es dem Geschädigten nicht zum Nachteil gereichen, dass die Beurteilung des hypothetischen Verlaufs mit nicht zu beseitigenden erheblichen Unsicherheiten behaftet ist. Denn es liegt in der Verantwortlichkeit des Schädigers, dass der Geschädigte in einem sehr frühen Zeitpunkt seiner Entwicklung aus der Bahn geworfen wurde und dass sich daraus die besondere Schwierigkeit ergibt, eine Prognose über deren Verlauf anzustellen. Deshalb dürfen sich die Gerichte in derartigen Fällen ihrer Aufgabe auf der Grundlage von § 252 BGB und § 287 ZPO eine Schadensermittlung vorzunehmen, nicht vorschnell unter Hinweis auf die Unsicherheit möglicher Prognosen entziehen (BGH aaO.). Deshalb werden in solchen Fällen auch der Beruf, die Vor- und Weiterbildung der Eltern, ihre Qualifikation in der Berufstätigkeit, die beruflichen Pläne für das Kind, sowie schulische und berufliche Entwicklung von Geschwistern herangezogen (BGH aaO.).

Die wenigen Beispiele in der Rechtsprechung hierzu verdeutlichen, dass die Gerichte insbesondere dann überzeugt sind, wenn möglichst genau zu den familiären Hintergründen vorgetragen wird. Besonderer Schwerpunkt liegt unter anderem dann auch auf dem Werdegang eines Geschwisterkindes, sofern dieses existiert, wie im vorliegenden Fall. Hinzu kommt noch, dass bei einer möglichen Prognoseentscheidung auch berücksichtigt wird, dass heutzutage, eine akademische Ausbildung des Kindes von weit mehr Eltern präferiert wird, als noch in früheren Zeiten. Im Falle des von uns vertretenen Kindes ist das Geschwisterkind erfolgreich im Studium und sämtliche Cousins und Cousinen im vergleichbaren Alter haben zumeist eine akademische Ausbildung oder sind anderweitig gut ausgebildeten Berufen unterwegs. Um eine Prognose über die berufliche Entwicklung besonders glaubhaft zu machen, empfiehlt es sich daher, realitätsnahe am Geschwisterkind und auch Eltern angelehnte fiktive berufliche Karrieren nachzuzeichnen und deren Jahres- bzw. auch Monatseinkommen zu ermitteln. In dem von uns betreuten Fall stand eine berufliche fiktive Karriere als Ingenieur oder in der chemischen Industrie mit dem üblichen Werdegang zu Debatte. Hierbei war es besonders mühevoll, die entsprechenden Daten und Studien über Gehaltsentwicklungen und Sparten zu ermitteln. Hierauf sollte jedoch ein besonderes Augenmerk gelegt werden, damit das Gericht bei der Prognoseentscheidung die besonderen Substantiierungsbemühungen erkennt. Beiden umfangreich ermittelten Einkommen ist dann das arithmetische Mittel zu wählen. 

Verdienstausfallschaden kann man unter Zugrundelegung des Nettolohns (Nettolohnmethode) oder des Bruttolohnes (Bruttolohnmethode) ermitteln. Den vorliegenden Konstellationen empfiehlt sich die Bruttolohnmethode, obgleich beide Methoden gleichrangig nebeneinander angewendet werden würden, da sie letztlich zu gleichen Ergebnissen führen sollten. Die Bruttolohnmethode ist jedoch deshalb empfehlenswert, weil von Sozialversicherungsbeiträgen bestimmte Sachen mehrfach berücksichtigt werden müssen, andere Positionen nicht. Die Berechnung des vom Gegner tatsächlich auszuzahlenden Schadensbetrages erweist sich somit als übersichtlicher und einfacher.

Durch die Verletzung des Körpers und der damit verbundenen Möglichkeit einer Erwerbsfähigkeit ist nach § 843 I BGB Schadenersatz durch Entrichtung einer Geldrente seitens des Schädigers zu leisten. Die Dauer der Rente ist auf die voraussichtliche Dauer der Erwerbstätigkeit des Verletzten festzusetzen. Im Erwerbsleben ist bei nicht selbstständigen Tätigkeiten von einem Ende der Tätigkeit mit Erreichen des gesetzlichen Ruhestandsalters auszugehen (BGH, NJWrr 1995,1272). Insofern ist es auch möglich, eine Geldrente in Form eines Verdienstausfallschadens bis zum Erreichen des gesetzlich maßgeblichen Renteneintrittsalters zu zahlen. nach §§ 843 II, 760 BGB ist die Geldrente jedoch für 3 Monate im Voraus zu zahlen. Dies muss bei der Antragstellung entsprechend berücksichtigt werden. Insbesondere bei der Berechnung auch bei pauschalen Abzügen, gibt es viel zu beachten, insbesondere ist Sorgfalt geboten.

Im vorliegenden Fall steht die gerichtliche Endentscheidung noch aus.

Jonas Frobel, Rechtsanwalt


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