Hilfskonstrukt im Arzthaftungsrecht: Der „immer-so-Beweis“ bei unvollständiger Dokumentation

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In einer kürzlich ergangenen Entscheidung hat das Landgericht Bielefeld die Klage einer Patientin auf Schmerzensgeld trotz lückenhafter Behandlungsunterlagen abgewiesen. Dabei nahm das Gericht unter Bezugnahme auf die aktuelle Rechtsprechung des BGH eine Beweislastentscheidung vor, die dennoch Anlass zu Kritik gibt.


Der Fall

Wegen fehlender therapeutischer Aufklärung über eine notwendige Eigenmobilisierung ihres operierten Zehengelenks hatte die Patientin Behandler und Klinik im Raum Bielefeld verklagt. Ihr Gelenk hatte sich versteift, weil sie nach der Entlassung aus dem Krankenhaus zu Hause keine Bewegungsübungen durchgeführt hatte. Bei der ersten Kontrolluntersuchung sei ihr erstmals erklärt worden, dass sie zu Hause sofort Mobilisationsmaßnahmen hätte vornehmen müssen, so die Patientin. Immerhin gelang es ihr dank intensiver Physiotherapie nach etwa zwei Jahren, die Belastbarkeit des Gelenks ohne Einschränkungen wieder zu erlangen. Eine endgradige leichte Steifigkeit verblieb jedoch.

Im Prozess vor dem Landgericht ließ die verklagte Klinik behaupten, es sei bei ihr seit langer Zeit ein standardisiertes Vorgehen, nach Zehengelenkoperationen den Patient*innen sowohl mündliche Hinweise zu Eigenmobilisationsübungen zu erteilen als auch eine Broschüre mit mehreren zu Hause durchzuführenden Mobilisationsübungen auf den Weg zu geben. Eine derartige therapeutische Aufklärung befand sich in dem Behandlungsunterlagen allerdings nicht. Zudem bestritt die klagende Patientin, vor ihrer Entlassung irgendwelche Hinweise oder eine Broschüre bekommen zu haben.

In der mündlichen Verhandlung vernahm das Landgericht Bielefeld eine Oberärztin und eine Physiotherapeutin der Klinik als Zeuginnen. Sie sollten beide in die Behandlung involviert gewesen sein, konnten sich aber nicht mehr an die Patientin erinnern. Auf Nachfrage gaben die beiden jedoch an, dass es in der Klinik eine interne Anweisung gebe, nach der vor der Entlassung am Zehengelenk operierter Patient*innen ausdrücklich Hinweise zur Eigenmobilisation zu geben und die dafür vorgesehene Broschüre zu überreichen sei. Diese Aufklärung werde „immer so“ vorgenommen.

Das Landgericht Bielefeld ließ sich von den Ausführungen der Oberärztin und der Physiotherapeutin überzeugen und wies die Klage der Patientin wegen anzunehmender ordnungsgemäßer therapeutischer Aufklärung ab (Urteil vom 15.02.2022 - 4 O 415/20).


Kritische Würdigung

Im Arzthaftungsrecht gilt seit den 1980er Jahren der Grundsatz: „Was nicht dokumentiert ist, gilt als nicht erbracht“. Nach ständiger BGH-Rechtsprechung gibt es beim Beweis der Aufklärung faktisch aber ein „in dubio pro medicus“: Im Zweifel können Ärzt*innen den ihnen obliegenden Beweis einer ordnungsgemäßen Aufklärung auch durch Schilderung einer regelmäßigen Aufklärungsübung erbringen (sog. „immer-so“- Rechtsprechung).

In Einzelfällen kann das Instrument des „immer-so-Beweises“ für Ärzt*innen also ein Rettungsanker bei unvollständigen Behandlungsunterlagen sein. Allerdings gerät die BGH-Rechtsprechung unter zunehmende Kritik. Aus ärztlicher Sicht kann es zwar durchaus nachvollziehbar sein, dass wegen einer Vielzahl von Behandlungen eine Dokumentation nicht vollständig geführt wurde. Trotzdem ist der „immer-so-Beweis“ nur ein Indiz und kein „echtes“ Beweismittel. Der BGH hilft der Behandlerseite mit seiner bisherigen Rechtsprechung in einer Art über eine Beweisnot hinweg, die mit den Beweislastregeln aus dem Patientenrechtegesetz aus dem Jahr 2013 rechtlich nicht zwingend vereinbar ist. Ob der BGH in künftigen, ähnlich gelagerten Fällen daran festhält, bleibt abzuwarten.


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