Mindeststrafe Kinderpornographie - Müssen die Gerichte die Anwendung ablehnen?

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Im Jahr 2021 hat die Große Koalition beschlossen, den Besitz von Kinderpornografie zum Verbrechen zu erklären, mit einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr. Diese Entscheidung wurde getroffen, nachdem schockierende Missbrauchsfälle bekannt wurden. Jedoch hat diese Strafrechtsverschärfung dazu geführt, dass auch Personen, die versehentlich kinderpornografisches Material besitzen oder verbreiten, mit einer harten Strafe belegt werden. Zum Beispiel wurden Mütter bestraft, die einschlägige Fotos auf dem Handy ihrer Kinder gefunden haben und andere Eltern warnen wollten. Einige Gerichte haben daher Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von § 184b StGB geäußert und dies dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt. Trotzdem hat Karlsruhe bisher keine Entscheidung getroffen.

Einige Landesjustizminister haben sich für eine Korrektur des Strafrahmens ausgesprochen, um mehr Spielraum für die Justiz zu schaffen. Das Bundesministerium der Justiz, geführt durch den Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP), arbeitet derzeit an einem Konzept, das bis Jahresende vorgelegt werden soll. 

Obwohl eine Änderung des Gesetzes dringend notwendig ist, haben Strafgerichte bereits jetzt die Möglichkeit, eine angemessene und verhältnismäßige Strafe für "naive Täter" zu verhängen. Dies gilt insbesondere für Fälle, in denen eine einjährige Freiheitsstrafe unangemessen wäre. Dies ist aufgrund der Verpflichtungen Deutschlands gemäß der EU-Richtlinie zur Bekämpfung der Kinderpornografie aus dem Jahr 2011 möglich. Die Richtlinie fordert die Mitgliedstaaten auf, den Besitz und Erwerb von Kinderpornografie zu bestrafen, jedoch müssen die Strafen auch verhältnismäßig sein. Artikel 49 Absatz 3 der EU-Grundrechtecharta betont ebenfalls die Notwendigkeit, Strafen zu verhältnismäßig und angemessen zu gestalten.

Deutschland ist nämlich bei der Strafgesetzgebung im Bereich Kinderpornografie nicht frei, sondern an eine EU-Richtlinie zur Bekämpfung der Kinderpornografie aus dem Jahr 2011 gebunden. Diese verpflichtet die EU-Mitgliedstaaten, den Erwerb und den Besitz von Kinderpornografie unter Strafe zu stellen. Deutschland ist dieser europarechtlichen Pflicht mit § 184b StGB nachgekommen. Allerdings heißt es in Erwägungsgrund 12 dieser Richtlinie zugleich, dass die Strafen wirkungsvoll und abschreckend, aber auch verhältnismäßig sein müssen. Noch deutlicher steht diese Pflicht zur Verhältnismäßigkeit von Strafen in Art. 49 Abs. 3 der EU-Grundrechtecharta – und diese ist anwendbar, weil § 184b StGB der Umsetzung einer EU-Richtlinie dient.

Während das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sich bislang noch nie dazu durchringen konnte, die Rechtsfolgenseite eines Straftatbestands als unverhältnismäßig zu brandmarken, geht der Europäische Gerichtshof (EuGH) hier deutlich entschiedener vor: Ein finnischer Einkommensmillionär hätte knapp 100.000 Euro Strafe dafür zahlen müssen, dass er bei der Einreise seinen Reisepass nicht zur Hand hatte. Dies hielt der EuGH kürzlich für unverhältnismäßig und daher für europarechtswidrig. Ebenso hielt der EuGH eine österreichische Regelung für unverhältnismäßig, die bei Schlampereien mit Lohnunterlagen zwingende Einzelgeldstrafen von mindestens 1.000 Euro je Fall vorgesehen hatte.

In seiner Rechtsprechung geht es dem EuGH in diesen Fällen um eine pragmatische Plausibilitätskontrolle: Liegt Art und Höhe der Sanktion noch im Bereich dessen, was wirklich erforderlich ist, um das Ziel der jeweiligen Regelung zu erreichen? Gegenüber einer Mutter, die nur andere Eltern warnen wollte und daher unvorsichtigerweise ein einschlägiges Bild geteilt hatte, ist eine einjährige Freiheitsstrafe offensichtlich nicht erforderlich, um effektiv gegen sexualisierte Gewalt gegen Kinder und gegen die Weiterverbreitung von Missbrauchsdarstellungen vorzugehen. Bei "naiven Tätern" ist die Strafdrohung des § 184b StGB aus Sicht des Europarechts unverhältnismäßig hart.

Im März 2022 entschied der EuGH, dass eine europarechtliche Pflicht zur Verhältnismäßigkeit von Strafen auch unmittelbare Wirkung entfaltet. Obwohl die Mitgliedstaaten einen Gestaltungsspielraum bei der Umsetzung von Richtlinien haben, die zur Erlass von Strafvorschriften oder auch nur von Bußgeldvorschriften verpflichten, gibt es nach Ansicht des EuGH ein zwingendes Verbot, unverhältnismäßig harte Sanktionen vorzusehen. Jede betroffene Person kann sich darauf unmittelbar berufen.

Übertragen auf § 184b StGB bedeutet diese klare Rechtsprechung des EuGH: Amts- und Landgerichte müssen der Verhältnismäßigkeit zum Durchbruch verhelfen und dürfen hierzu die in § 184b StGB enthaltene Mindeststrafe ignorieren – auch ohne vorherige Richtervorlage zum BVerfG. Das gibt den Gerichten die nötige Flexibilität in Strafverfahren gegen "naive Täter" wie die Mutter, die nur andere Eltern warnen wollte, oder die junge Erwachsene, die nicht schnell genug ein ihr zugeschicktes Bild gelöscht hatte. Aber all das entbindet den deutschen Gesetzgeber nicht von seiner verfassungs- und europarechtlichen Pflicht, dies auch selbst ins Gesetz zu schreiben – und hierzu § 184b StGB zumindest um eine Regelung für minder schwere Fälle zu ergänzen.

Ihr Rechtsanwalt 

Christian Keßler

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