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Kleine Gewerkschaften vor dem BVerfG gescheitert: Tarifeinheitsgesetz bleibt in Kraft

  • 6 Minuten Lesezeit
anwalt.de-Redaktion

Im Jahr 2015 ordnete das Tarifeinheitsgesetz die betriebliche Tarifeinheit erstmals gesetzlich als Kollisionsregel im tarifpluralen Betrieb an – und zählte damit prompt zu den umstrittensten gesetzlichen Neuregelungen. Da nur noch der Tarifvertrag der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern anwendbar sein sollte, fürchteten kleinere Gewerkschaften um ihre Chancen erfolgreiche Tarifverhandlungen zu führen und vor allem um ihr Streikrecht. Sie liefen deshalb gegen das Gesetz Sturm. Am Ende sind sie aber gescheitert, denn das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat nun entschieden: Das Tarifeinheitsgesetz ist im Kern mit der Verfassung vereinbar.

Das Problem der Tarifkollision 

Hintergrund der scheinbar nicht enden wollenden Diskussion um den Grundsatz der Tarifeinheit ist die simple Tatsache, dass es in Deutschland eine Vielzahl gültiger Tarifverträge gibt, die sich teilweise in ihren Anwendungsbereichen überschneiden. Das ist z. B. immer dann der Fall, wenn ein Arbeitgeber oder sein Arbeitgeberverband mit unterschiedlichen Gewerkschaften erfolgreiche Tarifverhandlungen führt. Da die Arbeitnehmer in größeren Betrieben häufig in unterschiedlichen Gewerkschaften organisiert sind, gelten dann in dem Betrieb für verschiedene Arbeitsverhältnisse oder Arbeitnehmer unterschiedliche Tarifverträge mit unterschiedlichen Arbeitsbedingungen hinsichtlich der Löhne, Arbeitszeiten, Entgeltfortzahlung, des Urlaubs usw. Diese Konstellation bezeichnen die Juristen als Tarifkollision oder genauer gesagt als Tarifpluralität. Das Problematische an dieser Situation ist, dass Arbeitnehmer nur wegen ihrer jeweiligen Gewerkschaftszugehörigkeit andere (bessere) Arbeitsbedingungen haben als ihre anders organisierten Kollegen, obwohl sie dieselbe oder eine vergleichbare Arbeit erbringen. 

Deutsche Bahn als Musterbeispiel der Tarifpluralität

Besonders deutlich hat sich dies beim letzten großen Tarifkonflikt bei der Deutschen Bahn AG in den Jahren 2014 und 2015 als die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) den Zugverkehr durch Streiks insgesamt neun Mal zum Erliegen brachte. Ein Grund für die harte Auseinandersetzung: Die GDL sah sich außer für Lokomotivführer auch als Vertreter anderer Beschäftigter wie Zugbegleiter oder Disponenten. Ein Ziel war dabei der Abschluss von eigenen Tarifverträge für die jeweiligen Berufsgruppen. Diese organisieren sich allerdings auch in der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), mit der die Bahn ebenfalls Tarifverträge abgeschlossen.

Tarifkollisionen sind nicht neu 

Dieses Problem ist nicht neu, sondern war schon weit vor Gründung der Bundesrepublik in der damaligen Weimarer Republik bekannt. Eine tragfähige Lösung hat man aber schon dort vergeblich gesucht. Auch als die für Deutschland später maßgeblichen Gesetze – das Tarifvertragsgesetz (TVG) und das Grundgesetz (GG) – 1949 verabschiedet worden sind, wurde viel über möglicherweise auftretende Tarifkollisionen debattiert. Eine gesetzliche Vorgabe zum Umgang mit Tarifkollisionen gab es trotzdem nicht, sodass es am Ende lange Zeit Aufgabe der Gerichte war, zu entscheiden, wie mit Tarifkollisionen umzugehen ist. 

Der Grundsatz der Tarifeinheit als Lösung? 

Für Unternehmen bedeutet Tarifpluralität einen organisatorischen Mehraufwand im Vergleich zur Tarifeinheit, bei der die Personalverwaltung nur die Tarifverträge einer einzigen Gewerkschaft anwenden muss. Zudem gefährden ständige Streiks unterschiedlicher Arbeitnehmergruppen den Betriebsfrieden und die Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems. Deshalb hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) seit 1957 den Grundsatz der Tarifeinheit praktiziert mit der Konsequenz, dass stets nur ein Tarifvertrag anwendbar war. Als zentrale Argumente führten die obersten Arbeitsrichter Gründe der Rechtssicherheit, Rechtsklarheit und Praktikabilität an. Der Grundsatz der Tarifeinheit sollte dafür sorgen, dass stets derjenige Tarifvertrag im Betrieb angewendet wird, der den Erfordernissen von Arbeitgeber und Arbeitnehmern am ehesten gerecht wird. 

Rechtsprechung zum Grundsatz der Tarifeinheit verfassungswidrig?

In der Rechtswissenschaft und vor den Instanzgerichten wurde diese scheinbare Lösung für auftretende Tarifkollisionen mehr als kritisch gesehen. So hatten z. B. das Landesarbeitsgericht (LAG) Hessen, das Sächsische LAG, das LAG Niedersachsen, das LAG Brandenburg, das LAG Bremen und das LAG Niedersachsen verfassungsrechtliche Bedenken gegen den Grundsatz der Tarifeinheit. Sie bemängelten in ihren Entscheidungen vor allem, dass mit dem Grundsatz der Tarifeinheit gegen kollektive Koalitionsfreiheit verstoßen würde, Arbeitnehmer anderer Gewerkschaften in einen tariffreien Raum gedrängt würden und die angebrachten Praktikabilitätsgesichtspunkte allein kein hinreichendes Argument darstellen würden. 

BAG gibt Rechtsprechung auf 

Tatsächlich gab das BAG seine über Jahrzehnte hinweg praktizierte Rechtsprechung 2010 mit drei Entscheidungen zum Rechtsstreit eines Mediziners vollständig auf. Anders als bisher hielt es von nun an unterschiedliche Tarifverträge verschiedener Arbeitnehmer in einem Betrieb für zulässig und damit die sogenannte Tarifpluralität. Hauptargument für die Kehrtwende des BAG war jedoch nicht, dass der Grundsatz an sich gegen die Verfassung verstößt, sondern dass er gesetzlich keinen Niederschlag gefunden hat. Die BAG-Richter führten deshalb aus, dass sie unabhängig von den verfassungsrechtlichen Bedenken nicht befugt seien, diesen Grundsatz im Wege der Rechtsfortbildung zu praktizieren. Infolgedessen konnten von da an im tarifpluralen Betrieb verschiedene Tarifverträge gelten, sodass auf ein einzelnes Arbeitsverhältnis stets der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft Anwendung fand, in der der jeweilige Arbeitnehmer Mitglied war.

Gesetzliche Kodifikation des Grundsatzes „ein Betrieb – ein Tarif“

Sowohl vor als auch nach der endgültigen Rechtsprechungsänderung wurde der Gesetzgeber von unterschiedlichen Stellen dazu aufgefordert, den Grundsatz der Tarifeinheit gesetzlich zu verankern. Danach sollte der Gesetzgeber eine Rechtsprechung, die sich über fünf Jahrzehnte lang bewährt und die Friedenswirkung der Tarifverträge gesichert habe, rasch in das Tarifvertragsgesetz implementieren, um so Schaden von der Koalitionsfreiheit, Tarifautonomie, dem Arbeitsmarkt und Wirtschaftsstandort abzuwenden. 

Als in den Jahren 2014 und 2015 schließlich der Tarifstreik zwischen der DB und der GDL eskalierte, gab der Gesetzgeber diesen Forderungen nach. Jedoch betonte Arbeitsministerin Andrea Nahles immer wieder, die Gesetzesänderung erfolge nicht als Reaktion auf große Streiks. Mit dem umstrittenen Tarifeinheitsgesetz führte sie den Grundsatz der Tarifeinheit in einer abgewandelten Form als gesetzliche Kollisionsregel ein. Nach der neuen gesetzlichen Vorgabe soll nur noch der Tarifvertrag der Gewerkschaft gelten, die im Betrieb die meisten Arbeitnehmer vertritt. Mit dieser Regelung wollten sich die kleinen Gewerkschaften nicht zufriedengeben. Gleich elf Gewerkschaften (z. B.  Deutsche Feuerwehr-Gewerkschaft, Ärztegewerkschaft Marburger Bund oder der Beamtenbunds dbb) reichten Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz beim BVerfG in Karlsruhe ein, von denen fünf zur Entscheidung angenommen wurden. Für das oberste deutsche Gericht in Karlsruhe stellte der Fall des Tarifeinheitsgesetzes sowohl einfach rechtlich als auch verfassungsrechtlich Neuland dar.

Gestritten wird um jedes noch so kleine Detail

Streitfragen um das Tarifeinheitsgesetz gibt es unzählige, denn Politik, Arbeitsrechter und Gewerkschaften streiten sich um jedes noch so kleine Detail. Grund hierfür ist, dass das Tarifeinheitsgesetz ein sehr schlankes Gesetz ist, das im Detail sehr viele Einzelfragen offengelassen hat und massive Auswirkungen auf die Tarifpolitik von speziellen Berufsgruppen (z. B. Ärzte, Piloten, Lokführer) hat. Von besonders zentraler Bedeutung sind dabei die Fragen,

  • ob mit dem Gesetz Streiks unterbunden werden können,  
  • ob das Gesetz Spartengewerkschaften entmachtet,
  • ob das Tarifeinheitsgesetz die Existenz von Berufsgruppengewerkschaften sogar gefährdet, 
  • welche Rechte einer Minderheitsgewerkschaft bleiben, 
  • ob die grundrechtlich geschützten Interessen der kleinen Gewerkschaften ausreichend berücksichtigt worden sind, 
  • welche Regelungen für Thematiken gelten, die im Mehrheitstarif überhaupt nicht angesprochen werden,
  • wie ein Notar feststellen soll, welche Gewerkschaft im Betrieb die Mehrheit hat,
  • ob sich das Arbeitsgericht auf eine notarielle Feststellung verlassen kann.

Selten war die Rechtslage so unklar wie beim Tarifeinheitsgesetz. Es gibt kaum ein anderes Thema, bei dem sich selbst Experten, ausgewiesene Kenner des Arbeits- und Verfassungsrechts sowie deren absolute Koryphäen so uneinig sind. Antworten auf die zentralen Fragen gibt es deshalb keine und zu jeder klaren Position gibt es zeitgleich mindestens eine exakte Gegenposition. Klare Aussagen, wie etwa „das Tarifeinheitsgesetz höhlt das Streikrecht aus“, „das Tarifeinheitsgesetz schiebt unverhältnismäßigen Streiks den Riegel vor“ oder „das Tarifeinheitsgesetz sorgt für Ordnung im Arbeitsleben“ gab es deshalb bisher nicht.

Machtwort der Karlsruher Richter? 

Angesichts der vielen offenen Fragen und der Tragweite des Gesetzes wurde das heutige Urteil des BVerfG mit Spannung erwartet. Entschieden hat das BVerfG am Ende aber wenig, denn es stellte lediglich fest, dass die Regelungen des umstrittenen Gesetzes zum Großteil mit der Verfassung vereinbar sind und es Aufgabe der Fachgerichte sei, die noch unklaren Einzelfragen zu klären. Nur unter einem einzigen Gesichtspunkt forderten die Karlsruher Richter den Gesetzgeber zur Nachbesserung auf: Bei der Verdrängung eines Tarifvertrags dürfen die Belange der Mitglieder der Minderheitsgewerkschaft nicht einseitig vernachlässigt werden.

(BVerfG, Urteil v. 11.07.2017, Az.: 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1588/15, 1 BvR 2883/15, 1 BvR 1043/16, 1 BvR 1477/16)

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