Sexueller Missbrauch und Familienrecht

  • 9 Minuten Lesezeit

Im nachfolgenden Beitrag beschäftigte ich mich mit dem Thema Kindesmissbrauch im Bereich des Familienrechts. Es handelt sich dabei um ein stark tabuisiertes Thema.

Wir sind als Zivilgesellschaft jedoch aufgefordert, über sexuellen Kindesmissbrauch zu sprechen. Auch muss es möglich sein, über sexuellen Missbrauch im familiären Kontext zu sprechen. Dies ist aus Gründen des Kinderschutzes geboten.

Laut Polizeilicher Kriminalstatistik gab es im Jahr 2019 etwa 16.000 Fälle von sexueller Gewalt an Kindern. Nach den Worten des Chefs des Bundeskriminalamtes, Holger Münch, muss von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden. Die geschätzte Dunkelziffer liegt zwischen 1:15 und 1:20.[1] Danach sind im Jahr 2019 selbst nach der vorsichtigen Schätzung des Bundeskriminalamtes 240.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland Opfer von sexuellem Missbrauch geworden. Die Weltgesundheitsorganisation geht sogar von 1.000.000 betroffenen Kindern und Jugendlichen aus. Bekannt ist laut Münch, dass die Täter häufig aus sozialen Nahbereichen stammen, aus der Familie des Opfers oder der weiteren Verwandtschaft.


Zivilgesellschaft

Die meisten von uns sind vom Thema des sexuellen Kindesmissbrauchs unangenehm berührt.

Auf das unangenehme Berührtsein reagieren wir mit dem Reflex, uns von dem Thema abzuwenden.

Die betroffenen Kinder und Jugendlichen können sich jedoch nicht selbst schützen. Der Loyalitätskonflikt des Kindes gegenüber dem Täter-Elternteil und die Angst des Kindes, die Nähe zu den Eltern zu verlieren, wird vom Täter oft strategisch bewusst ausgenutzt. Die ablehnende Haltung der Zivilgesellschaft verstärkt zudem das Gefühl der Kinder, sich nicht anvertrauen zu können.

Das Kind schützt mit seinem Schweigen daher auch unsere heile Welt.

Den oben beschriebenen Reflex der Abwendung beobachte ich auch bei den Beteiligten in einem kindschaftsrechtlichen Verfahren. Die gesellschaftlich ablehnende Grundhaltung wirkt sich auf die Beteiligten im Gerichtsverfahren aus.


Beteiligte an einem komplexen Sorge- und Umgangsverfahren

In einem komplexen Sorge- und Umgangsverfahren sind neben dem Kind und den Eltern regelmäßig folgende Personen am Gerichtsverfahren beteiligt:

/ Richter*in am Familiengericht;

/ Mitarbeiter*in des Jugendamtes;

/ Verfahrensbeistand*beiständin (Anwalt des Kindes),

/ Sachverständige*r

/ Umgangsbegleiter*in, wenn der Kontakt zwischen dem Kind und dem Vater (oder der Mutter) zunächst nur in Anwesenheit eines Dritten stattfindet.


Reaktionen auf den Vorwurf des sexuellen Kindesmissbrauchs im familiengerichtlichen Verfahren

Beim sexuellen Missbrauch im Familienrecht haben wir es damit zu tun, dass der Täter oder die Täterin der Vater, der Stiefvater, die Mutter, der Onkel oder der Großvater ist.

Berichtet beispielsweise eine Mutter nach der Trennung vom Partner im Rahmen eines Sorge- oder Umgangsrechtsverfahrens von sexuellen Übergriffen des Vaters auf das Kind, ist mit folgenden Reaktionen beispielhaft zu rechnen:

/ Das Gericht fordert die Mutter auf, ihre Strafanzeige wegen sexuellen Kindesmissbrauchs gegen den Vater zurückzunehmen. Das Gericht versucht also zu vermeiden, dass es zu einer Eskalation in der elterlichen Auseinandersetzung kommt.

/ Der Vater (ich gehe hier davon aus, dass er Täter ist) kann ausgezeichnet mit Menschen kommunizieren, mit Männern und mit Frauen. Gegenüber Mitarbeitern des Jugendamtes tritt er zuvorkommend auf. Das Jugendamt fühlt sich durch den Vater entlastet.

/ Das Jugendamt gibt gegenüber der Mutter und dem Familienrichter deutlich zu verstehen, dass es den Berichten der Mutter nicht glaubt.

(Zur Klarstellung: Das Gericht hat kein Glaubwürdigkeitsgutachten eingeholt. Es handelt sich jeweils lediglich um Privatmeinungen der Beteiligten.)

/ Die ohnehin hoch belastete Mutter fühlt sich durch die ablehnende Reaktion von Gericht und Jugendamt weiter unter Druck gesetzt. Ihre psychische Stabilität verschlechtert sich. Damit hat der Täter bereits ein entscheidendes Zwischenziel erreicht.

/ Der Umgangsbegleiter, der trotz der Missbrauchsvorwürfe den Umgang zwischen Vater und Kind sicherstellen soll, bleibt ebenfalls nicht neutral und stellt sich auf die Seite des Vaters. Er ist aufgrund der einseitigen Parteinahme für den Vater nicht in der Lage, der Mutter das Gefühl zu vermitteln, dass das Kind während der begleiteten Umgänge wirksam vor dem Vater geschützt ist.

/ Die Verfahrensbeiständin, deren Aufgabe darin besteht, die Interessen des Kindes in das Gerichtsverfahren einzuführen („Anwalt des Kindes“), hat es mit einem Kind zu tun, dass entweder zu jung ist, um zu sprechen oder zu verstört bzw. verängstigt, seine Eltern zu verlieren.

/ Das Kind kann entweder nicht sprechen. Oder wenn es spricht, wird ihm nicht geglaubt, mit der Begründung, es werde von der in Schädigungsabsicht handelnden Mutter instrumentalisiert.

/ Eine Sachverständige wird vom Gericht beauftragt, um die Frage zu klären, welche Form und Häufigkeit des Umgangs dem Kindeswohl am besten entspricht, und um die Grundlagen für die spätere Regelung des Sorgerechts durch das Gericht zu erarbeiten. Die Sachverständige wird aufgrund der sich widersprechenden Aussagen der Eltern keine klare Aussage machen können, ob der Missbrauch stattgefunden hat oder nicht.

/ Im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren macht der Vater keine persönliche Aussage, sondern lässt durch seinen sehr engagierten Strafverteidiger vortragen. Unter anderem wird er vortragen, dass die Mutter psychisch krank ist. Sein entscheidendes Interesse besteht darin, die Mutter zu diskreditieren. Die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren ein, wenn es keine objektiven Zeugen oder andere objektive Beweise gibt und der Missbrauch erstmalig im Rahmen eines Kindschaftsverfahrens vorgetragen wird.

Gibt es keine weiteren Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Kindes ist es sehr wahrscheinlich, dass der Vater unbegleiteten Umgang erhält.

Gut!, denken Sie. So soll es sein. Denn der Missbrauch konnte nicht bewiesen werden.


Keine Sachverhaltsaufklärung

Das ist eine Fehleinschätzung. Der Denkfehler besteht in Folgendem:

Der Sachverhalt wurde zu keinem Zeitpunkt aufgeklärt, weder vom Familiengericht noch von der Staatsanwaltschaft.

Die im Januar 2016 auf Initiative des Unabhängigen Beauftragten ins Leben gerufene Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs bestätigt, dass betroffenen Kindern von Fachkräften oft nicht geglaubt wird[2]:

Die Anhörungen zeigen, dass die Interessen des Kindes etwa vor Familiengerichten sehr oft nicht ausreichend berücksichtigt wurden und Betroffene darunter litten, dass ihnen auch von Fachkräften kein Respekt entgegengebracht und kein Glauben geschenkt wurde.

Zum sexuellen Missbrauch in der Familie äußert sich ein Mitglied des Betroffenenrates beim UBSKM und ständiger Gast der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs wie folgt:

(Es...) muss endlich auch die Familie und das familiäre Umfeld als Tatort, an dem die meisten Mädchen und Jungen sexualisierte Gewalt erleben, vertiefend in den Blick genommen werden.[3]


Tat

Es dürfte unbestritten sein, dass die (einmalige) Vergewaltigung einer erwachsenen Frau eine schwerwiegende Straftat ist.

Nun stellen Sie sich vor, das Opfer ist ein Kind.

Und stellen Sie sich weiter vor, das Kind ist über Wochen, Monate oder sogar Jahre sexueller Gewalt ausgesetzt und der Täter ist der Vater.

Das betroffene Mädchen oder der Junge befindet sich in einem massiven Ambivalenzkonflikt.

Man muss kein psychiatrischer Sachverständiger sein, um das nachvollziehen zu können.

Dabei ist zu beachten: Die Täter kommen aus allen Schichten und Berufen.[4] Es gibt auch Täterinnen.[5]

Und auch nichtinvasive, einmalige sexuelle Übergriffe, einschließlich sog. Hands-off-Delikte (z. B. der Täter lässt sich anfassen), haben schwerwiegende Folgen für das Kind, wenn die Taten nicht offengelegt werden. Denn das Kind kann sich nicht selbst schützen.

In allen Delikten ist das Kind mit dem Missbrauch weitgehend oder sogar vollkommen allein, gerade weil der Missbrauch von einer engen Bezugsperson ausgeht. Die Kinder sind auf die Unterstützung der Zivilgesellschaft und der Rechtspflege daher angewiesen.


Gegenmittel für Betroffene

Der Täter/die Täterin liebt die Dunkelheit, die Abgeschlossenheit und das Schweigen. Wenn der andere Elternteil sich vom Täter trennt, ist das daher für den Täter hochproblematisch. Suchen Sie als Betroffene oder als Elternteil eines betroffenen Kindes nach kleinen Lichtern da draußen. Es gibt eine ganze Menge. Stellen Sie sich vor, Sie schauen in die Dunkelheit. Und dann stellen Sie sich vor, Sie schauen in die Dunkelheit und es erscheint ein kleines Licht, das sagt „ich sehe dich“. Es gibt eine Vielzahl von Menschen, die ernsthaft bemüht sind, Sie und ihr Kind zu schützen, und das auch gelernt haben.

Das erforderliche Fachwissen ist in der Politik mittlerweile vorhanden: über den Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs sowie den Betroffenenrat. In der Rechtspflege muss sich dieses Wissen aber noch weiter durchsetzen.

Eine anwaltliche Vertretung und gute Vorbereitung vor Äußerung des Missbrauchsvorwurfs gegenüber Behörden halte ich für sehr sinnvoll. Sprechen Sie im Erstgespräch mit der Anwältin oder dem Anwalt auch den sexuellen Missbrauch an, damit dieses Thema im familiengerichtlichen Verfahren bereits frühzeitig berücksichtigt wird.


Gegenmittel der Zivilgesellschaft

Das erste Gegenmittel besteht wie immer im Jugendhilferecht in dem Schutz und der Unterstützung für den kindesbetreuenden Elternteil.

Das betroffene Kind hat das Recht darauf, dass der Staat mit seinen zahlreichen Helfern die Sachlage nüchtern, emphatisch und vor allem ergebnisoffen ermittelt.

Zurzeit ist das aus meiner Sicht vielfach noch nicht der Fall.

Auch die Mutter (oder der Vater), die zu lange nicht in der Lage waren, das Kind vor dem anderen Elternteil zu schützen, sind auf die Hilfe und Unterstützung der Zivilgesellschaft angewiesen.

Der Staat hat auch in Fällen des sexuellen Missbrauchs im familiären Kontext seinen Strafanspruch gegenüber dem Täter oder der Täterin durchzusetzen, anstatt gewissermaßen aus Bequemlichkeit (wegen der schwierigen Beweislage im innerfamiliären Kontext) oder aufgrund des Drucks engagierter Strafverteidiger vor dem Täter zurückzuweichen.

Bestehende Bedrohungs- und Einschüchterungsversuche des Täters und seines Umfelds sind zur Kenntnis zu nehmen. Juristisch sind Bedrohungen und Einschüchterungsversuche angesichts vielfältiger legitimer Mittel nicht erforderlich.

Jede familienrechtliche Entscheidung ist in einen gesellschaftlichen Kontext eingebettet. Wenn Sie sich, sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser, abwehrend und sogar abwertend gegenüber dem Thema des sexuellen Kindesmissbrauchs im familiären Kontext verhalten, schaffen Sie (natürlich meistens unbewusst) eine Voraussetzung dafür, dass sexueller Missbrauch in Familien unerkannt und betroffene Kinder damit allein bleiben.


Fazit

In Deutschland werden nach vorsichtigen Schätzungen jährlich etwa 200.000 Kinder Opfer von sexuellem Missbrauch. Die Mehrzahl der Täter stammt aus dem sozialen Nahbereich der Kinder, einschließlich der Familie der Opfer. Durch den engen sozialen Bezug zwischen Täter und Opfer befindet sich das Kind in einem massiven Ambivalenzkonflikt. Das Kind kann sich nicht selbst schützen und ist daher auf die Hilfe der Rechtspflege und deren Helfer angewiesen, auf der Grundlage einer ergebnisoffenen Annäherung an die familiäre Situation. Das notwendige Wissen ist in der Rechtspflege vielfach noch nicht vorhanden. Das hat zur Folge, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen diejenige Hilfe, welche der Staat ihnen ausdrücklich in seinen Gesetzen zum Familien- und Jugendhilferecht verspricht, zu oft nicht erhalten. Hierzu bedarf es zudem einer zivilgesellschaftlichen Akzeptanz der Realität von sexuellem Kindesmissbrauch in der Familie. Denn auch die Mitarbeiter der Rechtspflege bleiben vom gesellschaftlichen Umfeld nicht unberührt.

Für die Betroffenen gilt daher folgende Empfehlung:

Bevor Sie sich an eine Behörde wenden, lassen Sie sich rechtlich beraten.

Wenden Sie sich zudem an eine Beratungsstelle. Das Hilfeportal Sexueller Missbrauch beim Unabhängigen Beauftragten bietet eine gute Suchfunktion mit Anlaufstellen in Ihrer Nähe zu spezialisierten Beratungsangeboten.


Feedback

Über Fragen und Anregungen zu diesem Bericht würde ich mich freuen (info@kanzlei-juttabosch.de).


Hilfeportal und weitere Informationen über:

Hilfeportal Sexueller Kindesmissbrauch

Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs

Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs

Betroffenenrat


Fußnoten:

[1] Wikipedia, abgerufen am 09.11.2020 https://www.google.com/search?q=who+sexueller+missbrauch+deutschland+zahlen&rlz=1C1DIMC_enDE884DE884&oq=who&aqs=chrome.0.69i59j0i433l4j0l2j46i433.4601j1j7&sourceid=chrome&ie=UTF-8

[2] "Geschichten die zählen", Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, Bilanzbericht 2019, Band I Seite 112.

[3] ebenda, S. 100.

[4] https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/missbrauchszahlen-1752038

[5] ebenda.


Rechtstipp aus dem Rechtsgebiet

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