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Tarifeinheitsgesetz – 5 wichtige Fragen zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

  • 5 Minuten Lesezeit
anwalt.de-Redaktion

In der vergangenen Woche hat das BVerfG die Verfassungsbeschwerden über das Tarifeinheitsgesetz des Marburger Bundes, der Vereinigung Cockpit e. V., des dbb beamtenbund und tarifunion (dbb), der Nahverkehrsgewerkschaft (NahVG), der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, der Unabhängigen Flugbegleiter Organisation e. V. (UFO) und des Gewerkschaftsmitglieds Herrn R. größtenteils abgewiesen.

Es hat entschieden, dass das Tarifeinheitsgesetz zum Großteil nicht gegen das Grundgesetz verstößt. Die kritikreichen Reaktionen auf das mit Spannung erwartete, knapp 70 Seiten lange Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) waren nicht nur vielseitig, sondern zum Teil auch sehr widersprüchlich:

  • „Beschäftigungsprogramm für Arbeitsrichter“
  • „Stärkung der Solidarität“
  • „Stärkung der kleinen Gewerkschaften“
  • „notdürftiges Flickwerk“
  • „Gebrauchsanweisung für ein überwiegend missglücktes Gesetz“
  • „mehr Fragen als Antworten“
  • „wenig Licht, viel Schatten“

Im Beitrag vom 11.07.2017 wurde bereits der Hintergrund und die Geschichte zu der Entscheidung des Jahres aus Karlsruhe beleuchtet. Der heutige zweite Teil klärt fünf wichtige Fragen zur Entscheidung über das Tarifeinheitsgesetz: Hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) endlich ein Machtwort im jahrzehntelangen Streit um den Grundsatz der Tarifeinheit gesprochen, sind die Gewerkschaften in Karlsruhe wirklich gescheitert, ist das Tarifeinheitsgesetz mit dem Grundgesetz vereinbar, welche Konsequenzen hat das Urteil für den Gesetzgeber und dürfen kleine Gewerkschaften in Zukunft noch streiken?

Haben die Karlsruher Richter das langersehnte Machtwort gesprochen?

Die Karlsruher Richter haben zwar eine Entscheidung getroffen, von einem abschließenden Machtwort zum Streit über den Grundsatz der Tarifeinheit kann aber keine Rede sein. Grund dafür ist, dass das oberste Gericht zum einen viele Detailfragen an die Arbeitsgerichte delegiert und andererseits den Gesetzgeber zur Nachbesserung aufgefordert hat.

Das lange Urteil des BVerfG betont immer wieder, dass die Belastungen für die kleinen Gewerkschaften zumutbar sind, solange die zuständigen Arbeitsgerichte das Gesetz in ihren Fällen möglichst schonend auslegen. Diese schwammige Grundaussage bietet nicht nur viel Stoff für Streit, sondern wird auch für jahrelange Rechtsunsicherheit sorgen. Bei der Handhabung des Grundsatzes der Tarifeinheit waren sich die verschiedenen Arbeits- und Landesarbeitsgerichte schon in der Vergangenheit äußerst uneinig. An diesem Umstand hat das Urteil aus Karlsruhe wenig geändert, so dass es auch in Zukunft noch viel Diskussionspotenzial geben wird.

Ist das Tarifeinheitsgesetz mit dem Grundgesetz vereinbar?

Die zentrale Frage aus den Verfassungsbeschwerden nach der Verfassungsmäßigkeit des Tarifeinheitsgesetzes hat das BVerfG mit einem klaren „ja, aber“ beantwortet. Das umstrittene Gesetz ist dann mit der grundrechtlich geschützten Koalitionsfreiheit vereinbar, wenn die Gerichte es schonend anwenden und der Gesetzgeber an manchen Stellen Nachbesserungen vornimmt. Die Karlsruher Richter stellten explizit fest, dass das Tarifeinheitsgesetz den Schutzgehalt der in Art. 9 Abs. 3 Grundgesetz (GG) gewährleisteten Koalitionsfreiheit beeinträchtigt. Das Grundrecht kann aber zum Schutz anderer in der Verfassung geschützter Rechte beschränkt werden. Dies hat das Tarifeinheitsgesetz getan und dabei die verschiedenen Interessen zum Großteil angemessen berücksichtigt.

An einem Punkt stellten die Richter jedoch fest, dass die Regelungen des Tarifeinheitsgesetzes nicht mit dem Schutz der Koalitionsfreiheit vereinbar sind: Die Interessen der Minderheitsgewerkschaft dürfen bei der Nachzeichnung des Mehrheitstarifvertrags nicht unberücksichtigt bleiben. Deshalb dürfen langfristig angelegte, die Lebensplanung der Beschäftigten berührende Ansprüche aus dem Minderheitstarifvertrag durch dessen Verdrängung nicht verloren gehen. Das ist aber nach der gesetzlichen Regelung immer der Fall, wenn für die Gewerkschaften keine Möglichkeit besteht, vergleichbare Leistungen im nachzeichnungsfähigen Mehrheitstarifvertrag zu erhalten. Als Beispiel für solch eine unzumutbare Härte führen die Richter etwa den Verlust tarifvertraglich vereinbarter, langfristig angelegter Leistungen zur Alterssicherung, zur Arbeitsplatzgarantie oder zur Lebensarbeitszeit an. Enthält der Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft hierzu keine Regelung, würden diese erkämpften Rechte durch die Regelung des Tarifeinheitsgesetzes verloren gehen. Da sich dieser Punkt nicht durch eine schonende Gesetzesauslegung beseitigen lässt, muss der Gesetzgeber an dieser Stelle nachbessern und dafür Sorge tragen, dass die Interessen der Minderheitsgewerkschaft auch im Mehrheitstarifvertrag berücksichtigt werden.

Welche Konsequenzen hat der Richterspruch für den Gesetzgeber?

Für den Gesetzgeber hat das Urteil der obersten Richter aus Karlsruhe verschiedene Auswirkungen. Das Gericht hat sein umstrittenes Gesetz gebilligt und ihn gestärkt. Die Richter erklärten seine Zielsetzung in Bezug auf das Gesetz für zulässig und räumten dem Gesetzgeber bei der Zielsetzung und Ausgestaltung seiner Gesetze einen sehr weiten Einschätzungsspielraum ein. Dennoch muss der Gesetzgeber das Tarifeinheitsgesetz noch einmal ändern und die verfassungsrechtlichen Beanstandungen bis zum 31.12.2018 beseitigen.

Sind die Gewerkschaften in Karlsruhe wirklich gescheitert?

Die Reaktionen der Gewerkschaften auf die Entscheidung aus Karlsruhe sind äußerst unterschiedlich. Das liegt daran, dass das BVerfG zwar die Verfassungsbeschwerden formal fast vollständig abgewiesen, inhaltlich im Urteilstext die Gewerkschaften aber auch gestärkt hat. Das Urteil hat nämlich sehr klar den Schutzbereich der Koalitionsfreiheit herausgearbeitet und dargelegt, bis zu welcher Grenze diese eingeschränkt werden darf. Dabei betonten die Richter auch, dass es mit der Verfassung unvereinbar sei, bestimmte Gewerkschaften aus dem Tarifgeschehen zu drängen oder bestimmten Gewerkschaftstypen, wie z. B. die Berufsgewerkschaften, die nur einzelne Berufsgruppen wie Ärzte, Lokführer oder das Pflegepersonal vertreten, die Existenzgrundlage zu entziehen. Mit seiner „ja, aberE-Entscheidung zum Tarifeinheitsgesetz hat das BVerfG zudem auch im Sinne der Gewerkschaften entschieden, denn das Tarifeinheitsgesetz ist in seiner derzeitigen Fassung nicht mit der grundgesetzlich geschützten Koalitionsfreiheit vereinbar. Nur wenn der Gesetzgeber dafür sorgt, dass die Interessen der kleineren Gewerkschaft auch im Mehrheitstarifvertrag gewahrt werden und erstrittene Sonderleistungen nicht verloren gehen, ist es mit dem Grundgesetz vereinbar.

Dürfen kleinere Gewerkschaften weiterhin streiken?

Verschiedene Medien berichten zwar, dass das BVerfG den Angriff auf das Streikrecht legitimiert habe, dass die Streikbremse im Kern mit dem Grundgesetz vereinbar sei, dass das Verfassungsgericht das Streikrecht weiter eingeschränkt habe und Streiks kleinerer Gewerkschaften verboten werden dürften. Tatsächlich findet sich im langen Urteil der Karlsruher Richter genau die gegenteilige Aussage: Die Richter haben in ihrer Entscheidungsbegründung ausdrücklich klargestellt, dass das Tarifeinheitsgesetz das Recht der Gewerkschaften, mit den Mitteln des Arbeitskampfes auf den jeweiligen Gegenspieler Druck und Gegendruck in Form von Streiks auszuüben in keinerlei Weise einschränkt.

Auch wenn der Schutz der Öffentlichkeit vor zunehmenden Streikgeschehen ein Motiv des Gesetzgebers war und die Gesetzesbegründung auf des Arbeitskampfrecht Bezug nimmt, wirken sich die Regelungen des Tarifeinheitsgesetzes dennoch nicht auf die Zulässigkeit von Arbeitskämpfen aus. Verschiedene Regelungen wie z. B. der Zeitpunkt der Tarifkollision nach Abschluss des Minderheitstarifvertrags oder die Tatsache, dass das Nachzeichnungsrecht den Abschluss eines Tarifvertrags voraussetzt, sorgen dafür, dass das Streikrecht nicht angetastet wird. Das Tarifeinheitsgesetz führt deshalb nach dem Urteil der Verfassungsrichter nicht zur Beschränkung des Streikrechts durch die Hintertüre, denn es wird weder Streikrecht eingeschränkt noch das damit verbundene Haftungsrisiko für die Gewerkschaften erhöht. Unterm Strich heißt das, dass auf Grundlage des Tarifeinheitsgesetzes kein Streik verboten werden darf.

(BVerfG, Urteil v. 11.07.2017, Az.: 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1588/15, 1 BvR 2883/15, 1 BvR 1043/16, 1 BvR 1477/16)

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