Evaluation der Pandemiepolitik der letzten zwei Jahre

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Der Bericht des Sachverständigenausschusses liegt nunmehr vor. Dieser sollte die bisherige Pandemiepolitik unter die Lupe nehmen und deren Wirksamkeit nachträglich evaluieren.

Insgesamt kommt man nach Lektüre des 160 Seiten starken Berichts (hier abrufbar) zu dem Schluss:

Es handelt sich um eine wichtige und überfällige Analyse. Die Chance, hierdurch zu einer besseren Pandemiepolitik zu kommen, konnte aber nicht genutzt werden:

An vielen Stellen können die Sachverständigen nur eine sehr vorsichtige bzw. vorläufige Einschätzung der Pandemiepolitik abgeben. Der Hintergrund: In Deutschland mangelt es auch nach zwei Jahren Pandemie an einer umfassenden und flächendeckenden Datenerhebung, die erst eine Evaluation der staatlichen Maßnahmen möglich macht.

Hauptproblem: Datenmangel

Das Hauptproblem der deutschen Pandemiebekämpfung wird recht schnell (bereits auf Seite 9) benannt:

Die fehlende Datenerhebung und Zusammenführung.

Auf Seite 26 ff. wird dieser Datenmangel näher beleuchtet:

Ziel: „Evidence-Informed-Decision-Making-in-Public-Health“

Als Ziel wird dort die evidenzbasierte Pandemiepolitik ausgerufen.

Dies bedeutet im Klartext: Bei allen staatlichen Eingriffen im Bereich Gesundheitspolitik sollen die Entscheidungen evidenzbasiert erfolgen, d.h. auf einer entsprechenden Datengrundlage beruhen.

Anders formuliert: Es sollen nur solche Regelungen und Eingriffe beschlossen werden, deren Nutzen eindeutig beweisbar ist.

Eigentlich ist dies eine Selbstverständlichkeit/Banalität, die durch den o.g. Anglizismus etwas verdeckt wird.

Keine Begleitforschung zu NPIs („Non-pharmaceutical interventions“)

NPIs werden vom Evaluationsbericht alle nicht pharmazeutischen Eingriffe genannt. Deren Bandbreite ist groß und den Bürgern nach zwei Jahren Pandemie hinlänglich bekannt:

- Schließung von Schulen

- Verbot von Veranstaltungen

- Verhängung von Quarantäne

- Grenzkontrollen

- Beschränkungen des internationalen Reiseverkehrs uvm.

In Deutschland – so stellt der Sachverständigenausschuss fest – fand und findet keine Begleitforschung zur Evaluierung der im Infektionsschutzgesetz vorgesehenen NPIs statt.

Defizit vom RKI selbst erkannt – aber nicht behoben

Das RKI kommt bereits im Jahr 2001 – also kurz nach Verabschiedung des neuen IfSG – zu dem Schluss, dass die Wirksamkeit der im IfSG verankerten Maßnahmen nicht näher untersucht wurde und deren Wirksamkeit daher unbekannt sei (Evaluationsbericht, dort S. 27).

Der Sachverständigenausschuss schreibt daher zutreffend:

„Dem RKI war bereits klar, dass demzufolge diese Maßnahmen nur probatorisch angeordnet werden können.“

Eine probatorische Maßnahme oder Behandlung ist eine solche, die nur versuchsweise angewendet wird.

Das RKI mahnte nach 2001 den Forschungsbedarf auch mehrmals an.

Nur: Für die Erforschung ist das RKI selbst zuständig. In § 4 Abs.1 S.1 f. IfSG heißt es zu den Aufgaben des RKI:

„Das Robert Koch-Institut ist die nationale Behörde zur Vorbeugung übertragbarer Krankheiten sowie zur frühzeitigen Erkennung und Verhinderung der Weiterverbreitung von Infektionen. Dies schließt die Entwicklung und Durchführung epidemiologischer und laborgestützter Analysen sowie Forschung zu Ursache, Diagnostik und Prävention übertragbarer Krankheiten ein.“

Forschung gibt es, aber kein übergreifendes Konzept

Nun gibt es natürlich auch in Deutschland Forschung zu COVID-19. Allerdings eher für den medizinisch-pharmazeutischen Bereich.

Nun ist auch nicht so, dass sämtliche Forschung in Deutschland gemacht werden müsste. Die Zahl der internationalen Studien wächst immer weiter.

In erster Linie fehlt es an einem nationalen Forschungskonzept; Evaluationsbericht, dort S.27:

„Während in anderen Ländern Möglichkeiten zur Einschätzung der Wirkung von NPI genutzt wurden, ist eine koordinierte Begleitforschung während der Corona-Pandemie in Deutschland weitgehend unterblieben. Insbesondere gibt es kein von einem nationalen Expertenteam entwickeltes, nationales Forschungskonzept zur SARS-CoV-2-Epidemiologie und -Bekämpfung, um die begleitende Forschung im Bereich Epidemiologie und Public-Health zu koordinieren und auf Grundlage besserer Daten und darauf aufbauender Analysen die anstehenden Entscheidungen in der Pandemie zu fällen.“

Es fehlt zudem an dem politischen Willen, die Daten zu erheben bzw. zusammenzuführen; Evaluationsbericht, dort S.27:

„Ebenso wurde bislang auch keine Koordinierung der bereits geplanten oder laufenden Studien zur Lösung der brennendsten Bekämpfungsfragen auf nationaler Ebene angestrengt. So gab es bisher keine zum Beispiel gemeinsam vom BMWF und BMG koordinierte Forschungsinitiative, die etwa auch die Deutsche Forschungsgesellschaft, die Leibniz-Gemeinschaft oder Max-Planck-Gesellschaft mit einbezogen hätte. Selbst die Gesetzlichen Krankenkassen haben ihre enormen Datenbestände bislang offenbar erfolglos für eine datenschutzgerechte Analyse angeboten, zum Beispiel bei der Verknüpfung von Impf- mit Gesundheitsdaten, die mit einem relativ geringen Aufwand zu verwirklichen wäre.“

Datenmangel macht sich auch in juristischen Auseinandersetzungen bemerkbar

Seit dem Auftreten der ersten Infektionen in Deutschland gab es eine Vielzahl von gerichtlichen Entscheidungen zur staatlichen Pandemiebekämpfung.

Häufiges Problem bei der juristischen Bewertung war auch hier der Datenmangel. Die staatliche Seite/die Behörde, die verklagt wurde, zog sich darauf zurück, dass der Eingriff zur Pandemiebekämpfung eben notwendig sei.

Die Geeignetheit des Eingriffs konnte allerdings in der Regel nur sehr dürftig belegt werden. In den behördlichen Schriftsätzen und dann auch in den Gerichtsentscheidungen finden sich häufig immer wieder dieselben Quellen und Studien. Teilweise handelt es sich auch um staatliche Veröffentlichungen (bspw. des RKI). Zu beobachten war auch, dass immer wieder auf ein und dieselbe Studie Bezug genommen wurde.

Hinzu tritt der Umstand, dass es sich in der Regel um Entscheidungen im vorläufigen Rechtsschutz handelte. Hier findet nur eine eingeschränkte Überprüfung statt.

Im Klartext: Die fehlende Geeignetheit eines staatlichen Eingriffs musste schon offensichtlich sein, damit das Gericht den Eingriff als rechtswidrig einstuft.

Auftrag an Gerichte: Strengerer Prüfungsmaßstab

Bei der Gefahrenabwehr – um die es ja auch bei der Pandemiepolitik  geht – ist seit langem anerkannt, dass die Gefahrenabwehr desto unbestimmter sein darf, je weniger über die Gefahr bekannt ist.

Das heißt für COVID-19: In der Anfangsphase einer Pandemie mit einem neuen Virus darf der Staat unter vielen möglichen Mittel wählen. Das Mittel, das angewendet wird, muss nur grundsätzlich geeignet erscheinen, die Pandemie zu bekämpfen. Die Grenze ist das Willkürverbot.

Das ist ein recht lockerer Maßstab.

Je mehr allerdings über das Virus bekannt ist, desto zielgenauer muss der Staat agieren.

In der Rechtsprechung scheint diese Formel eine Ergänzung zu erfahren:

Je mehr allerdings über das Virus hätte bekannt sein können, desto zielgenauer muss der Staat agieren.

Staat nutzt seine Erkenntnismöglichkeiten nicht

Nutzt der Staat seine Erkenntnismöglichkeiten nicht, dann kann es sich nicht mehr darauf berufen, die Gefahr sei weitgehend unbekannt.

Die Gerichte haben damit einen Hebel, um den Staat zu mehr Forschung und Evaluation zu bewegen. So hat bspw. das OVG Niedersachen die 2G-Regel im Einzelhandel mit folgender Begründung abgelehnt (OVG Lüneburg, Beschluss vom 16.12.2021 - 13 MN 477/21):

„Der Senat hat bereits mehrfach beanstandet, dass verlässliche und nachvollziehbare Feststellungen zur tatsächlichen Infektionsrelevanz des Geschehens in Betrieben und Einrichtungen des Einzelhandels fehlen. Der beispielsweise im Beschluss des Senats vom 15.3.2021 (13 MN 103/21, BeckRS 2021, 4511 Rn. 40 ff.) beschriebene Sachstand erscheint insoweit unverändert. Jedenfalls sind dem Senat in diesem Verfahren vom Ag. insoweit keine (neuen) Erkenntnisse präsentiert worden. Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Erforschung von Infektionsumfeldern durch den Ag. intensiviert worden wäre, um die Zielgenauigkeit seiner Schutzmaßnahmen zu erhöhen.“

Die Entscheidung wurde zwar vielfach kritisiert, sie erfährt allerdings durch den Evaluationsbericht des Sachverständigenausschusses eine Rechtfertigung.

Fazit

Eine systematische Erforschung der Pandemiebekämpfungsmaßnahmen ist in Deutschland unterblieben. Dies ist eine Hypothek für die Zukunft. Eine zielsichere Pandemiebekämpfung wird deshalb auch in Zukunft nur teilweise möglich sein.

Die Analyse zeigt einmal mehr, dass richtige Entscheidungen nur auf einer vollständigen Datenbasis getroffen werden können.

Robert Nebel, M.A.

Rechtsanwalt

Licenciado en Derecho


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