Weniger Hartz IV wegen mehr Trinkgeld?
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Beschäftigte im Dienstleistungssektor, also z. B. Friseure oder Kellner, erhalten in der Regel Trinkgeld, wenn ihre Kunden mit ihrer Arbeit zufrieden sind. Obwohl mittlerweile das Mindestlohngesetz gilt, sind die Beschäftigten in vielen Fällen auch dringend auf diese zusätzlichen Gelder angewiesen. Manche müssen ihr Einkommen sogar mit Hartz IV aufstocken. Doch wirken sich Trinkgelder leistungsmindernd auf die Höhe des Anspruchs auf Arbeitslosengeld II (ALG II) aus?
Arbeitslosengeld berechnen – Jobcenter schätzt Höhe des Trinkgelds
Eine alleinerziehende Mutter verdiente als Friseurin bei einer Monatsarbeitszeit von 60 Stunden lediglich 540 Euro. Sie musste daher mit Hartz IV aufstocken. Allerdings machte das Jobcenter bei der Berechnung des Bedarfs Probleme: Weil die Mutter keine Angaben zur Höhe der Trinkgelder gemacht hatte, rechnete das Jobcenter nämlich unter anderem fiktives Trinkgeld beim Einkommen an, was wiederum die Höhe der Hartz-IV-Leistung verringerte. Dabei schätzte es die Höhe der monatlichen Trinkgelder auf 60 Euro – schließlich könne die Frau bei einer Arbeitszeit von 60 Stunden pro Monat 60 Kunden bedienen, die jeweils wohl ein Trinkgeld von durchschnittlich 1 Euro zahlen. Nach Adam Riese würde die Mutter also 60 Euro Trinkgeld pro Monat erhalten.
Diese Berechnung ging der Friseurin zu weit. Da sie den Job erst neu angetreten habe, fehlten ihr Stammkunden, die stets Trinkgeld geben. Vielmehr erhalte sie oftmals weniger oder gar kein Trinkgeld. An manchen Tagen habe sie nur so viel bekommen, dass es gerade für ein Mittagessen reichte. Ferner benötige sie für manche Kunden länger als eine Stunde. Als das Jobcenter sich weigerte, seinen Bescheid zu ändern, zog die junge Mutter vor Gericht.
Anrechnung von Trinkgeld ist unzulässig
Nach Ansicht des Sozialgerichts (SG) Karlsruhe stellte das Trinkgeld nicht anrechenbares Einkommen nach § 11a V Sozialgesetzbuch 2 (SGB II) dar. Es durfte daher die Hartz-IV-Leistung nicht mindern.
Trinkgeld als Einkommen?
Nach § 11 SGB II ist insbesondere der Arbeitslohn als Einkommen auf den Bedarf des Leistungsempfängers anzurechnen. Bevor dieser mit Hartz IV aufstockt, soll er schließlich erst einmal sein eigenes Einkommen für den Lebensunterhalt verwenden. Nach § 11a V SGB II dürfen aber Zuwendungen Dritter nicht als Einkommen berücksichtigt werden, wenn zu der Zahlung weder eine rechtliche noch eine sittliche Pflicht bestand und eine Berücksichtigung des Geldes grob unbillig wäre oder sich die Lage des Hilfsbedürftigen durch die Zuwendung nicht derart verbessert, dass der Anspruch auf Hartz IV entfällt.
Trinkgeld ist eine freiwillige Zuwendung
Gerade Beschäftigte im Dienstleistungssektor erhalten in der Regel nur dann ein Trinkgeld, wenn ihr Kunde mit der erledigten Arbeit zufrieden war. Dieser bringt damit zum Ausdruck, dass er „freundlich und zuvorkommend bedient“ wurde und sich gut aufgehoben gefühlt hat. Eine rechtliche Pflicht ergibt sich daraus nicht. Denn für die Leistung muss der Kunde lediglich das vereinbarte Entgelt zahlen – mehr nicht.
Ferner mögen Trinkgeldzahlungen zwar als Sitte in Deutschland weitverbreitet sein, eine sittliche Pflicht ist darin aber nicht zu sehen. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass seit Januar 2015 fast immer der Mindestlohn von 8,50 Euro/Stunde zu zahlen ist – der Kunde darf also davon ausgehen, dass der Beschäftigte nicht auf das Trinkgeld angewiesen ist. Es soll vielmehr nur als „Belohnung“ oder „Spende“ und nicht als Einkommen dienen.
Anrechnung von Trinkgeld ist grob unbillig
Müssten sich Aufstocker erhaltene Trinkgelder als Einkommen anrechnen lassen, würde das dem Wunsch der Kunden, nämlich den Beschäftigten zu belohnen, widersprechen. Schlimmstenfalls könnten sie sogar dazu übergehen, gar kein Trinkgeld mehr zu zahlen, wenn sie erfahren, dass die Zuwendungen dem Beschäftigten letztlich nicht zugutekommen.
Auch könnte dieses Vorgehen dazu führen, dass die Motivation der Aufstocker nachlässt, wenn sie merken, dass sich ihr Engagement nicht auszahlt. Schließlich kann es nicht sein, dass Aufstocker mit dem Trinkgeld ihr Existenzminimum sichern müssen. Ferner wäre eine Anrechnung von Trinkgeld grob unbillig, weil Nicht-Aufstocker das Trinkgeld steuer- und abgabefrei behalten können, während Aufstocker es auf ihr Einkommen anrechnen lassen müssten.
Vorliegend durfte die Friseurin daher sämtliche Trinkgelder behalten – eine Anrechnung auf ihr Einkommen war unzulässig. Im Übrigen erwähnte das Gericht noch, dass die Trinkgeldeinnahmen der Friseurin wohl eher gering sind. Aus diesem Grund ist nicht damit zu rechnen, dass die junge Mutter allein aufgrund dieser Zuwendungen ihre Lebenslage zukünftig erheblich verbessern kann und ein Anspruch auf Hartz IV entfällt, vgl. § 11a V Nr. 2 SGB II.
Fazit: Trinkgelder sind steuer- und abgabefrei. Beschäftigte dürfen diese freiwilligen Zuwendungen ihrer Kunden daher behalten, ohne Abzüge hinnehmen zu müssen. Gleiches gilt auch für Aufstocker: Trinkgeld darf nicht als Einkommen auf den Bedarf des Leistungsempfängers angerechnet werden.
(SG Karlsruhe, Urteil v. 30.03.2016, Az.: S 4 AS 2297/15)
(VOI)
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