Zu schnell gefahren oder mit zu wenig Abstand - Verfahrenseinstellung à la Bundesverfassungsgericht?

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Am 11.08.2009 kam es zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Zusammenhang mit Geschwindigkeitsüberwachungen durch Videoaufzeichnungen (Az.: 2 BvR 941/08; abgedruckt u.a. in NJW 2008, 1505), die seither die Öffentlichkeit beschäftigt. Bedauerlicherweise ist die Berichterstattung über diese Entscheidung und den Gehalt derselben zum Teil als juristisch unzutreffend zu bezeichnen. Wir möchten Ihnen daher den Inhalt der Entscheidung im Folgenden darstellen und zugleich ein paar der zahlreichen Fragen beantworten, die regelmäßig in diesem Zusammenhang an uns heran getragen werden:

1.) Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11.08.2009 

Der Gerichtsentscheidung war ein Fall vorweg gegangen, in dem ein Betroffener vom Amtsgericht Güstrow wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung zu einer Geldbuße verurteilt worden war. Der Verurteilung hatte das Amtsgericht das Ergebnis einer Videoüberwachung mit dem Verkehrskontrollsystem vom Typ VKS zu Grunde gelegt. Diese Videoüberwachung war von einer Autobahnbrücke durchgeführt worden. Im Rahmen der Maßnahme wurden alle durchfahrenden Fahrzeuge verdeckt gefilmt. Auf dem Film war der jeweilige Fahrer erkennbar und auch identifizierbar. Eine vorherige Auswahl dahingehend, ob der jeweilige Fahrer eines Verkehrsverstoßes überhaupt verdächtig war, fand nicht statt. Die Maßnahme wurde von der Verkehrsbehörde auf den Erlass des Wirtschaftsministeriums Mecklenburg-Vorpommern zur Überwachung des Sicherheitsabstandes nach § 4 StVO vom 1.7.1999 gestützt.

Der Betroffene legte gegen das Urteil Rechtsbeschwerde ein, hatte aber damit beim Oberlandesgericht Rostock keinen Erfolg.

Daraufhin zog er vor das Bundesverfassungsgericht, welches die amtsgerichtliche Entscheidung und den Verwerfungsbeschluss des Oberlandesgerichts auf die Verfassungsbeschwerde des Betroffenen hin aufhob und das Verfahren an das Amtsgericht Güstrow zurück wies.

Zur Begründung führte das Bundesverfassungsgericht aus, dass eine verdachtsunabhängige Videoüberwachung von Verkehrsvorgängen in den Schutzbereich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) eingreife, weil jeder Bürger selbst soll entscheiden können, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden und weil dazu auch Angaben darüber gehören, wann jemand mit seinem Pkw an einer bestimmten Stelle gefahren ist. Dieser Eingriff sei nur aufgrund eines Gesetzes und nicht allein aufgrund einer Verwaltungsanweisung erlaubt.

2.) Frage: Sind nach der verfassungsgerichtlichen Entscheidung nun alle Geschwindigkeits- und Abstandsmessverfahren mit Videoüberwachung einzustellen? 

Diese Frage ist rechtlich noch nicht abschließend geklärt. Ich persönlich bin der Meinung, dass zumindest grundsätzlich alle Verfahren eingestellt werden müssen, bei denen Geschwindigkeits- oder Abstandsverstöße mit fest installierten Video-Messverfahren erfasst werden sollen. Demgegenüber wird in der Regel eine individuelle Messung, bei der ein potentieller Täter mit einem Zivilfahrzeug der Polizei gefilmt wird, im Hinblick auf ihre Zulässigkeit grundsätzlich nicht zu beanstanden sein.  

Zunächst ist festzuhalten, dass das Bundesverfassungsgericht nur einen bestimmten Fall entschieden hat, in dem das Verkehrskontrollsystem vom Typ VKS verwendet wurde. Es gibt aber zahlreiche Videoaufnahmesysteme für Messungen von Geschwindigkeits- und Abstandsverstößen. Das System VKS zeichnet sich dadurch aus, dass es verdachtsunabhängig sämtliche Fahrzeuge und Fahrer auf Video festhält. Demgegenüber gibt es durchaus verschiedene andere Videomessverfahren, bei denen beispielsweise über Videokameras auf einer Autobahn-Brücke mögliche Verstöße wahrgenommen werden und nur in diesem Fall, also bei einem sogenannten Anfangsverdacht, eine weitere Kamera an der Leitplanke aktiviert wird, die zur Täterfeststellung dienlich sein soll. Ob auch in einem derartigen Fall ein Verstoß gegen Grundrechte anzunehmen sei, wurde bislang verfassungsgerichtlich nicht entschieden.

Immerhin aber meint beispielsweise das Amtsgericht Schweinfurt in einem Verfahren wegen Unterschreitung des Sicherheitsabstandes, dass bei Messgeräten wie den vorstehend beschriebenen das Messergebnis verwertbar sei. Begründet wird dies damit, dass die Aufnahmen der Brückenkameras alleine aufgrund der technischen Ausstattung und der Frontscheibenverspiegelung der vorbei fahrenden Fahrzeuge nicht geeignet seien, um Personen zu identifizieren. Erst die nach einem entsprechenden Verdacht auslösende Leitplankenkamera sei hierfür geeignet (AG Schweinfurt, Urteil vom 31.8.2009, Az. 12 OWi 17 Js 7822/09).

Wir persönlich hegen an diesen Feststellungen durchaus Zweifel, schließlich dürfte doch bei der heutigen Technik mit entsprechenden Vergrößerungen auch über die Aufnahmen der Brückenkameras gegebenenfalls eine Täterfeststellung möglich sein (ähnlich auch VGH Mannheim, NVwZ 2004, 498, 500).

Gleichwohl zeigt sich an dieser Entscheidung, dass auch nach Bekanntwerden der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts keineswegs sämtliche Gerichte dazu übergehen, bei entsprechenden Video-Messverfahren über eine Einstellung nachzudenken.

Im vorliegenden Fall gelangte das Bundesverfassungsgericht dazu, dass in Mecklenburg-Vorpommern keine hinreichende gesetzliche Grundlage für die Video-Überwachung vorhanden war. Damit ist zunächst nur klargestellt, dass in diesem Bundesland das konkrete Messverfahren vom Typ VKS unrechtmäßig eingesetzt wurde, die auf eine Geschwindigkeitsüberschreitung gerichteten Video-Beweise also unzulässigerweise erhoben wurden. Die Rechtslage ist aber von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. Zumindest ist nicht auszuschließen, dass in anderen Bundesländern für derartige Videoüberwachungen eine gesetzliche Grundlage existiert. An die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts schlossen sich daher heftige Diskussionen in Juristenkreisen an und seither werden verschiedenste mögliche Rechtsgrundlagen untersucht. So vertritt beispielsweise das Oberlandesgericht Bamberg in einem Beschluss vom 15.10.2009 (Az. 2 SS OWi 1169/09) die Auffassung, dass es für eine Videoüberwachung bezüglich einer Abstandsunterschreitung eine gesetzliche Rechtsgrundlage (nämlich § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 100 h Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 2 S. 1 StPO) gäbe. Daher wurde von dort eine Rechtsbeschwerde zulasten des Betroffenen verworfen. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass dort auch von einer verdachtsabhängigen Videomessung ausgegangen wurde und nicht - wie im Fall des Bundesverfassungsgerichts - von einer verdachtsunabhängigen Messung. Da die Entscheidung des Oberlandesgerichts Bamberg bislang nicht veröffentlicht wurde, sind auch die näheren Einzelheiten nicht bekannt. Es bleibt daher eine Besprechung zu einem späteren Zeitpunkt abzuwarten.

Hinzu kommt auch noch, dass die Juristen zwischen einem so genannten Beweiserhebungsverbot und einem Beweisverwertungsverbot unterscheiden. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht die Messung im konkreten Einzelfall als grundrechtswidrig eingestuft, so dass das Messergebnis als Beweismittel nicht hätte erhoben werden dürfen. Die Verfassungsrichter schwiegen sich demgegenüber aber zu der Frage aus, ob das Messergebnis deswegen auch unverwertbar ist und das Verfahren gegen den Betroffenen einzustellen ist!

Grundsätzlich ist in diesem Zusammenhang auszuführen, dass nicht jedes Beweiserhebungsverbot zugleich auch dazu führt, dass das Messergebnis nicht mehr verwertet werden darf. Ich persönlich vertrete - wie auch der DeutscheAnwaltVerein - die Auffassung, dass bei derartigen Grundrechtseingriffen in der Regel auch ein Beweisverwertungsverbot anzunehmen sein wird und deswegen das Bußgeldverfahren einzustellen ist.

Die rechtliche Situation ist dabei noch weitgehend ungeklärt. Es gibt allerdings erheblichen Spielraum für Argumentationen und die Möglichkeiten einer Einstellung sind definitiv gegeben. Zu derartigen Verfahrenseinstellungen ist es nach hiesiger Kenntnis bereits an folgenden Gerichten gekommen:

  • Amtsgericht Arnstadt, Beschluss vom 04.11.2009, Az.: 992 Js 202078/09
  • Amtsgericht Bad Kreuznach (Rheinland-Pfalz), Beschluss vom 22.10.2009, Az. unbekannt
  • Amtsgericht Lünen (Nordrhein-Westfalen), Beschluss vom 14.10.2009, Az. 16 OWi-225 Js 1519/09
  • Amtsgericht Oberhausen, Beschluss vom 22.10.2009, Az. unbekannt

Umgekehrt darf aber die Entscheidung des Verfassungsgerichts nicht blauäugig dahin gehend missverstanden werden, dass nun sämtliche Geschwindigkeits- und Abstandsmessungen einzustellen seien.

Zwar kamen bereits erste Amtsgerichte selbst in herkömmlichen Verfahren (z.B. Radarmessungen oder Lasermessungen) zu einer Einstellung, weil es auch hier notwendig sei, zur Feststellung des Fahrzeugführers auf die gefertigten Bilder zurück zu greifen die technisch fixiert und zu Beweiszwecken aufbereitet, ausgewertet und abgerufen werden müssten (vgl. AG Grimma, Beschluss vom 31.8.2009, Az.: 003 OWi 166 Js 35228/09 und AG Eilenburg, Beschluss vom 22.09.2009, Az.: 5 OWi 253 Js 53556/08). Diese Auffassung wiederum halte ich persönlich für unzutreffend. Zwar mag auch hier die Anfertigung von Lichtbildern eines Verdächtigen einen Eingriff in dessen Recht am eigenen Bild und auf informationelle Selbstbestimmung darstellen. Allerdings dürfte in derartigen Fällen eine rechtliche Grundlage dafür gegeben sein, eine Identifizierung des als bereits verdächtig erfassten Betroffenen mithilfe einer Bildaufzeichnung vorzunehmen.

Am Ende bleibt es stets eine Entscheidung im Einzelfall, ob der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts in Ihrem eigenen Fall nutzbar gemacht werden kann und die Chance auf eine Einstellung besteht oder nicht.

Fragen Sie daher den Verkehrsanwalt Ihres Vertrauens. Der vorliegende Beitrag kann nämlich eine umfassende Beratung im Einzelfall auf keinen Fall ersetzen. Auch wird für die inhaltliche Richtigkeit - wie üblich bei derartigen Beiträgen - keine Haftung übernommen.

Dr. Sven Hufnagel

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verkehrsrecht 

Der Autor ist im gesamten Bundesgebiet nahezu ausschließlich im Bereich des Verkehrsrechts und schwerpunktmäßig im Ordnungswidrigkeitenrecht / Bußgeldrecht tätig.  

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