Das aussagepsychologische Gutachten im Strafprozess – Sexualstrafrecht

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Kurzer Beitrag zum aussagepsychologischen Gutachten im Strafprozess

Obwohl der Zeugenbeweis gegenüber dem Sachbeweis einen geringeren Beweiswert besitzt, weil seine Verlässlichkeit alles andere als garantiert ist, spielt er im Strafverfahren oftmals die Hauptrolle und kann allein zu einer Verurteilung führen. Die Überzeugung des Gerichts davon, dass der Zeuge in seiner Aussage wahrheitsgemäße Angaben macht, ist daher von elementarer Bedeutung.

Aussagepsychologische Gutachten, die eine Überprüfung der Glaubwürdigkeit einer Zeugin und der Glaubhaftigkeit von Zeugenangaben zum Gegenstand haben, können im Strafprozess daher eine entscheidende Rolle für den Ausgang des Verfahrens spielen.

Das Einholen eines solchen Gutachtens kommt immer dann in Betracht, wenn Zweifel an der Glaubwürdigkeit oder Glaubhaftigkeit bestehen. Unter der allgemeinen Glaubwürdigkeit einer Person versteht man dabei, die ihr dauerhaft anhaftende, personale Eigenschaft im Sinne einer Redlichkeit. [1] Mit anderen Worten geht es darum, ob die Person allgemein als ehrlich und aufrichtig einzuschätzen ist. Die Glaubhaftigkeit hingegen ist ein Aussagemerkmal. Sie ist das Ergebnis der Beurteilung, ob die auf ein bestimmtes Geschehen bezogenen Angaben zutreffen.

Die allgemeine Glaubwürdigkeit des Zeugen oder der Zeugin ist nicht Gegenstand einer aussagepsychologischen Begutachtung. Es geht vielmehr um die Beurteilung, ob auf ein bestimmtes Geschehen bezogene Angaben zutreffen, d. h. einem tatsächlichen Erleben der untersuchten Person entsprechen. [2] Insoweit ist es schwierig die beiden Begrifflichkeiten im Fall der konkreten Aussageanalyse auseinander zu halten, da das Vorliegen des einen Umstands oft Rückschlüsse auf den anderen zulassen wird. Ist die Zeugin bspw. speziell in der Vernehmung nicht glaubwürdig, liegt die Annahme nahe, dass ihre Angaben nicht der Wahrheit entsprechen, mithin nicht glaubhaft sind. Gleichwohl kann es Fälle geben, in denen ein konkret glaubwürdiger Zeuge keine glaubhaften Angaben macht, etwa weil er selbst einem Irrtum unterliegt.

Insbesondere in Sexualstrafverfahren mit kindlichen oder jugendlichen Zeuginnen und Zeugen oder solchen mit geistigen Erkrankungen, Reifedefiziten etc. kommt es häufig zur aussagepsychologischen Begutachtung. [3] Die Beurteilung, ob ein Zeuge in der Vernehmung glaubwürdig ist und glaubhafte Angaben macht, obliegt aber grundsätzlich erst einmal dem Tatgericht. Regelmäßig ist nämlich davon auszugehen, dass Berufsrichter über diejenige Sachkunde bei der Anwendung aussagepsychologischer Glaubwürdigkeitskriterien verfügen, die für die Beurteilung von Aussagen auch bei schwieriger Beweislage erforderlich ist. Dies gelte erst recht bei jugendlichen Zeugen, wenn die Berufsrichter Mitglieder der Jugendschutzkammer sind und deshalb über spezielle Sachkunde in der Bewertung der Glaubwürdigkeit von jugendlichen verfügen, so der BGH. [4] 

Die Hinzuziehung eines psychologischen Sachverständigen sei jedoch dann geboten, wenn der Sachverhalt Besonderheiten aufweise, die Zweifel daran aufkommen ließen, ob die eigene Sachkunde des Tatgerichts zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit unter den konkret gegebenen Umständen ausreiche. [5] Das Gericht muss dann von Amts wegen eines Sachverständigen zuziehen bzw. dem entsprechenden Antrag des Angeklagten oder seines Verteidigers stattgeben (vgl. § 19 V RiStBV). Wann dies sein kann, hängt vom Einzelfall ab. 

Anknüpfungstatsachen, die die Hinzuziehung eines Aussagepsychologen erforderlich machen können, müssen solche sein, aufgrund derer die Beurteilung der Verstandsreife oder einer sonstigen „psychischen Auffälligkeit“, wie es der BGH nennt [6], besondere Fachkunde erfordert, die nicht mehr zum Repertoire des vernehmungspsychologisch bewanderten Richters gehört. In Betracht kommen etwa Anzeichen für eine klinische Persönlichkeitsstörung einer Zeugin, bspw. gerichtsbekannte Suizidversuche, oder Anzeichen für eine geistige Unterwicklung eines Zeugen.

Die fachkundige Glaubhaftigkeitsbeurteilung setzt in den meisten Fällen die sog. Exploration des Zeugen in Form einer psychiatrischen oder psychologischen Untersuchung durch den Sachverständigen voraus.[7] Diese kann nicht erzwungen werden, sondern bedarf seiner Einwilligung.[8] Gleichwohl, kann die Untersuchung auch ohne die Mitwirkung des Zeugen stattfinden. So ist es je nach Fallgestaltung regelmäßig möglich, dem Sachverständigen auf anderem Wege die erforderlichen Anknüpfungstatsachen für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben eines Zeugen zu verschaffen.[9] Dies kann etwa dadurch geschehen, dass sich der Sachverständige in der Hauptverhandlung selbst ein Bild vom Zeugen macht oder seine Erkenntnisse allein aus dem Aktenmaterial schöpft.[10]

Das vollendete aussagepsychologische Gutachten kann dann im Anschluss als Urkundenbeweis in die Hauptverhandlung durch dessen Verlesen eingeführt werden. Gegebenenfalls kann der Sachverständige sein Gutachten in der Hauptverhandlung auch mündlich präsentieren, indem er vernommen wird.

Hinsichtlich der Würdigung der sachverständigen Beurteilung ist das Gericht im Grundsatz frei und damit nicht gehalten, einem Sachverständigen zu folgen (vgl. § 261 StPO). Kommt es aber zu einem anderen Ergebnis, so muss es sich in den Urteilsgründen konkret mit den Ausführungen des Sachverständigen auseinandersetzen, um zu belegen, dass es über das bessere Fachwissen verfügt.[11] Genügen die Urteilsgründe diesen Anforderungen nicht, hält die Beweiswürdigung einer revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand.[12]

Vor dem Hintergrund, dass es zur aussagepsychologischen Begutachtung überhaupt es deshalb kommt, weil das Gericht seine mangelnde Fachkunde in Bezug auf die Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage selbst erkennt, wird es sich im Nachhinein wohl nur in Ausnahmefällen über die Ausführungen des Sachverständigen hinwegsetzen.

[1] Vgl. BGHSt 45, 164 = NJW 1999, 2746, beck-online.

[2] Vgl. BGHSt 45, 164 = NJW 1999, 2746, beck-online.

[3] NJW 2016, 985 (985).

[4] BGH Urt. v. 12.7.2017 – 1 StR 408/16, BeckRS 2017, 121242, beck-online.

[5] BGH Urt. v. 12.7.2017 – 1 StR 408/16, BeckRS 2017, 121242, beck-online.

[6] NStZ 2010, 100, beck-online.

[7] NJW 2016, 985.

[8] NJW 2016, 985.

[9] BGH, Urt. v. 21.8.2014 − 3 StR 208/14 (LG Hannover); NStZ 2015, 299, beck-online.

[10] BGH, Urteil vom 03.06.1982 – 1 StR 184/82; NJW 2016, 985 (986).

[11] NStZ 2013, 55, beck-online

[12] NStZ 2013, 55, beck-online

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