Leitlinien der ESMA zu einigen Aspekten der MiFID-II-Anforderungen

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Die Leitlinien der ESMA (European Securities and Markets Authority) vom 12. April 2022 zu einigen Aspekten der MiFID-II-Anforderungen an die Angemessenheit und das reine Ausführungsgeschäft im Rahmen der Erbringung von Wertpapierdienstleistungen basieren auf Artikel 16 Absatz 1 der ESMA-Verordnung.

Die einheitliche Anwendung der Artikel 25 Absatz 3 der MiFID II bzw. der Artikel 55 und 56 der Delegierten Verordnung zur MiFID II sowie des Artikels 25 Absatz 4 der MiFID II und des Artikels 57 der Delegierten Verordnung zur MiFID II soll dadurch zwecks Stärkung des Anlegerschutzes sichergestellt werden.

Aufklärung über den Zweck der Angemessenheitsbeurteilung (Leitlinie 1)

Bei der Erbringung von Wertpapierdienstleistungen ohne Beratung sollen die wichtigsten Unterschiede zwischen den Wertpapierdienstleistungen mit Beratung und ohne Beratung unter Berücksichtigung der anwendbaren Anforderungen im Rahmen der Angemessenheitsbeurteilung erläutert werden (ESMA-Leitlinien zu einigen Aspekten der MiFID-II- Anforderungen an die Angemessenheit und das reine Ausführungsgeschäft, Seite 6 Mitte und unten). Die unionsrechtlichen Quellen finden sich dazu in Artikel 24 Absätze 1, 4, 5, Artikel 25 Absätze 3 und 4 der MiFID II.

Verständnis der Kunden und der angebotenen Produkte (Leitlinie 2)

Für die korrekte Beurteilung der Kenntnisse und der Erfahrungen des Kunden ist es besonders wichtig, dem Risiko Rechnung zu tragen, dass Kunden zu einer Überschätzung ihrer Kenntnisse tendieren können, und die Widerspruchsfreiheit der Antworten des Kunden zu gewährleisten. Im Zuge der Befragung zur Feststellung, ob der Kunde über ausreichende Kenntnisse über die wichtigsten Merkmale und Risiken spezieller Arten von Anlageprodukten verfügt, sollten es Firmen insbesondere vermeiden, Fragen zu stellen, die mit Ja oder Nein zu beantworten sind, oder einen Ansatz für die Selbsteinschätzung zu wählen, der auf dem Ankreuzen von Feldern basiert (zum Beispiel sollten es die Firmen vermeiden, den Kunden zu fragen, welche Produkte auf einer Liste von Anlageprodukten er versteht). Die Selbsteinschätzung der Kunden sollte durch die Vorgabe objektiver Kriterien relativiert werden (ESMA-Leitlinien zu einigen Aspekten der MiFID-II-Anforderungen an die Angemessenheit und das reine Ausführungsgeschäft, Seite 10 oben). Die unionsrechtlichen Quellen finden sich dazu in Artikel 16 und Artikel 25 Absätze 3 und 4 der MiFID II sowie Artikel 55 der Delegierten Verordnung.

Umfang der von den Kunden einzuholenden Informationen richtet sich nach der Verhältnismäßigkeit (Leitlinie 3)

Gemäß Artikel 25 Absatz 3 der MiFID II müssen die Firmen vor der Erbringung von Dienstleistungen ohne Beratung, für die eine Angemessenheitsbeurteilung erforderlich ist, den Kunden oder potenziellen Kunden um Angaben zu seinen Kenntnissen und seiner Erfahrungen im Anlagebereich in Bezug auf den speziellen Typ der angebotenen oder gewünschten Produkte oder Dienstleistungen bitten, um beurteilen zu können, ob die in Betracht gezogenen Wertpapierdienstleistungen oder Anlageprodukte für den Kunden angemessen sind (ESMA-Leitlinien zu einigen Aspekten der MiFID-II-Anforderungen an die Angemessenheit und das reine Ausführungsgeschäft, Seite 12 oben). Die unionsrechtlichen Quellen finden sich dazu in Artikel 25 Absatze 3 der MiFID II sowie Artikel 55 der Delegierten Verordnung.

Es wird daran erinnert, dass nach Artikel 56 Absatz 1 Unterabsatz 2 der Delegierten Verordnung zur MiFID II ein Wertpapierdienstleister berechtigt ist, davon auszugehen, dass ein professioneller Kunde über die erforderlichen Kenntnisse und die notwendigen Erfahrungen verfügt, um die Risiken im Zusammenhang mit den betreffenden Wertpapierdienstleistungen oder Geschäften bzw. der Art von Geschäften oder Anlageprodukten, für die er als professioneller Kunde eingestuft ist, zu erfassen, Seite 13 letzter Absatz, aaO.

Zuverlässigkeit der Kundeninformationen (Leitlinie 4)

Die Grundsätzen und Verfahren der Firmen sollten auf die Bewertung der Qualität und Wirksamkeit der zur Einholung von Informationen über die Kenntnisse und Erfahrungen von Kunden und potenziellen Kunden eingesetzten Mittel ausgerichtet sein. Setzen Firmen für die Angemessenheitsbeurteilung Instrumente ein, die vonseiten des Kunden genutzt werden sollen (wie etwa Online-Fragebögen oder Software zur Beurteilung, ob ein Anlageprodukt angemessen ist oder ein Hinweis erstellt werden sollte, d. h. „Software zu Erstellung von Profilen“), sollten sie mittels angemessener Systeme und Kontrollen gewährleisten, dass diese Instrumente tatsächlich zweckdienlich sind und zu zufriedenstellenden Ergebnissen führen. Die Firmen sollten Kontrollen der Widerspruchsfreiheit bezüglich der Antworten der Kunden in die Fragebögen aufnehmen, um Widersprüche zwischen verschiedenen Teilen der erhobenen Informationen hervorzuheben (ESMA-Leitlinien zu einigen Aspekten der MiFID-II-Anforderungen an die Angemessenheit und das reine Ausführungsgeschäft, Seite 14 oben). Die unionsrechtlichen Quellen finden sich dazu in Artikel 25 Absatze 3 der MiFID II sowie Artikel 55 der Delegierten Verordnung.

Aktualisierung der Kundeninformationen (Leitlinie 5)

Um zu vermeiden, dass Kundeninformationen zugrunde gelegt werden, die unvollständig, unrichtig oder veraltet sind, sollten die Wertpapierdienstleister über Regelungen verfügen, mit denen sichergestellt wird, dass sie den Kunden um eine Aktualisierung der Angaben über seine Kenntnisse und/oder Erfahrungen ersuchen, wenn ihnen eine einschlägige Veränderung bekannt wird, die sich auf seinen Kenntnisstand und/oder sein Erfahrungsniveau auswirken könnten (ESMA-Leitlinien zu einigen Aspekten der MiFID-II-Anforderungen an die Angemessenheit und das reine Ausführungsgeschäft, Seite 15 unten). Die unionsrechtlichen Quellen finden sich dazu in Artikel 16 Absatz 2 und Artikel 25 Absatze 3 der MiFID II sowie Artikel 55 der Delegierten Verordnung.

Kundeninformationen zu juristischen Personen oder Gruppen, Leitlinie 6

Wenn ein Vertreter nach dem geltenden nationalen Recht vorgesehen ist oder bestellt wird, sollten die Informationen über Kenntnisse und Erfahrungen von diesem Vertreter eingeholt werden, und die Angemessenheitsbeurteilung sollte bezüglich dieses Vertreters durchgeführt werden (ESMA-Leitlinien zu einigen Aspekten der MiFID-II-Anforderungen an die Angemessenheit und das reine Ausführungsgeschäft, Seite 16 unten). Die unionsrechtlichen Quellen finden sich dazu in Artikel 16 Absatz 2 und Artikel 25 Absatze 3 der MiFID.

Notwendige Vorkehrungen zum Verständnis von Anlageprodukten, Leitlinie 7

Bei der Einstufung von Anlageprodukten für die Zwecke der Angemessenheitsbeurteilung sollten Firmen ein ausreichendes Maß an Granularität zugrunde legen, um sicherzustellen, dass nur Anlageprodukte mit ausreichend vergleichbaren Eigenschaften und Risikomerkmalen zusammengefasst werden und die Erfahrungen und Kenntnisse des Kunden anhand solcher Merkmale und Risiken beurteilt werden. Die Firmen sollten mehrere Schlüsselfaktoren für die Einstufung berücksichtigen wie etwa Elemente der Optionalität (im Fall von Derivaten oder Produkten mit eingebetteten Derivaten), Hebelwirkung, Bail-in- Berücksichtigungsfähigkeit, Nachrangigkeitsklausel, Beobachtbarkeit des Basiswerts (z. B. die Heranziehung unbekannter oder undurchsichtiger Indizes), Garantien für die Kapitalrückzahlung oder Klauseln zum Kapitalschutz, Liquidität des Produkts (d. h. Handelbarkeit an einem Handelsplatz, Geld-Brief-Spanne, Verkaufsbeschränkungen, Austrittsgebühren) sowie die Währung des Anlageprodukts (ESMA-Leitlinien zu einigen Aspekten der MiFID-II-Anforderungen an die Angemessenheit und das reine Ausführungsgeschäft, Seite 16 unten). Die unionsrechtlichen Quellen finden sich dazu in Artikel 16 Absatz 2 und Artikel 25 Absatze 3 der MiFID II.

Ermittlung angemessener Anlagen für Kunden, Leitlinie 8

Die Instrumente sollten so gestaltet sein, dass sie alle maßgeblichen Besonderheiten der einzelnen Kunden oder Anlageprodukte berücksichtigen. Beispielsweise wären Instrumente, die Kunden (entsprechend ihrem Kenntnisstand und ihrer Erfahrung) oder Anlageprodukte in zu breit gefasste Kategorien einstufen, nicht zweckdienlich. Die Firmen sollten die Methode, die für die Bestimmung des Ergebnisses der Angemessenheitsbeurteilung herangezogen wird, eindeutig festlegen und dokumentieren. Wenn eine Firma ein festgelegtes Scoring-System für die Abstufung und Beurteilung der Angemessenheit verwendet, sollten die zugrunde gelegte Methodik, Parameter und Formeln klar, eindeutig und dokumentiert sein (ESMA-Leitlinien zu einigen Aspekten der MiFID-II-Anforderungen an die Angemessenheit und das reine Ausführungsgeschäft, Seite 19 Mitte). Die unionsrechtlichen Quellen finden sich dazu in Artikel 16 Absatz 2 und Artikel 25 Absatze 3 der MiFID II sowie Artikel 21 und Artikel 56 Absatz 1 der Delegierten Verordnung.

Wirksamkeit von Hinweisen, Leitlinie 9

Um die Wirksamkeit von Hinweisen, die von Firmen erstellt werden, wenn vom Kunden keine oder nicht ausreichende Informationen über seine Kenntnisse oder Erfahrungen zur Verfügung gestellt werden oder wenn die Beurteilung dieser Informationen zu dem Ergebnis führt, dass die angebotene oder gewünschte Wer papierdienstleistung oder das Anlageprodukt für den Kunden nicht angemessen ist, müssen diese deutlich wahrnehmbar, klar und unmissverständlich sein (ESMA-Leitlinien zu einigen Aspekten der MiFID-II-Anforderungen an die Angemessenheit und das reine Ausführungsgeschäft, Seite 21 oben). Die unionsrechtlichen Quellen finden sich dazu in Artikel 25 Absätze 3 der MiFID II sowie Artikel 56 Absatz 2 der Delegierten Verordnung.

Qualifikation der Mitarbeiter, Leitlinie 10

Die an der Angemessenheitsbeurteilung beteiligten Mitarbeiter sollten die Rolle verstehen, die sie bei dieser Beurteilung spielen, und über ein angemessenes Niveau an Fähigkeiten, Kenntnissen und Fachkunde verfügen, darunter auch ausreichende Kenntnisse der einschlägigen Aufsichtsanforderungen und -verfahren, um ihrer Verantwortung gerecht werden zu können. Zu diesem Zweck sollten Firmen ihre Mitarbeiter regelmäßig weiterbilden (ESMA-Leitlinien zu einigen Aspekten der MiFID-II-Anforderungen an die Angemessenheit und das reine Ausführungsgeschäft, Seite 22 unten). Die unionsrechtlichen Quellen finden sich dazu in Artikel 16 Absatz 2 und 25 Absatz 3 der MiFID II sowie Artikel 21 Absatz 1 Buchstabe d der Delegierten Verordnung.

Aufzeichnungspflichten, Leitlinie 11

Die Aufzeichnungspflichten ergeben sich aus Artikel 16 Absatz 7, Artikel 25 Absatz 5 und Artikel 25 Absatz 6 der MiFID II sowie Artikel 56 Absatz 2 und Artikel 72 und 76 der Delegierten Verordnung.

Festlegung von Fällen, in denen eine Angemessenheitsbeurteilung erforderlich ist, Leitlinie 12

Die Firmen sollten Strategien und Prozesse entwickeln, einführen und aktualisieren, mit denen ermittelt werden kann, welche ihrer Anlageprodukte für die Zwecke der Angemessenheitsbeurteilung als „komplex“ und „nichtkomplex“ betrachtet werden können. Solange sie nicht anhand der Kriterien in Artikel 57 der Delegierten Verordnung zur MiFID II bewertet und für erfüllt befunden wurden, sollten „andere nicht komplexe Finanzinstrumente“ gemäß Artikel 25 Absatz 4 Buchstabe a Ziffer vi der MiFID II als komplex eingestuft werden.

Die Grundsätze und Verfahren der Firmen sollten sicherstellen, dass Anlageprodukte, die ausdrücklich aus der Liste der nicht komplexen Instrumente gemäß Artikel 25 Absatz 4 Buchstabe a Ziffern i-v der MiFID II ausgeschlossen sind, keinesfalls anhand der Kriterien in Artikel 57 der Delegierten Verordnung zur MiFID II bewertet werden, um möglicherweise für die Zwecke der Angemessenheitsbeurteilung als nichtkomplexe Anlageprodukte eingestuft zu werden (ESMA-Leitlinien zu einigen Aspekten der MiFID-II-Anforderungen an die Angemessenheit und das reine Ausführungsgeschäft, Seite 25 unten). Die unionsrechtlichen Quellen finden sich dazu in Artikel 16 Absatz 2, Artikel 25 Absatz 3 und Artikel 25 Absatz 4 der MiFID II sowie Artikel 57 der Delegierten Verordnung

Kontrollen, Leitlinie 13

Die Firmen sollten über angemessene Überwachungsregelungen und Kontrollen verfügen, mit denen die Einhaltung der Anforderungen an die Angemessenheit sichergestellt wird (ESMA-Leitlinien zu einigen Aspekten der MiFID-II-Anforderungen an die Angemessenheit und das reine Ausführungsgeschäft, Seite 26 unten). Die unionsrechtlichen Quellen finden sich dazu in Artikel 16 Absatz 2, Artikel 16 Absatz 5 Unterabsatz 2 und Artikle 25 Absatz 3 der MiFId II sowie Artikel 76 der Delegierten Verordnung.

Fazit: Der rechtliche Rahmen für die Erbringung von Finanzdienstleistungen erfordert die Beachtung unionsrechtlicher Vorgaben. Die ESMA veröffentlichte diese Leitlinien, um die weitere Vereinheitlichung der Auslegung der MiFID-II-Anforderungen an die Compliance-Funktion und das entsprechende aufsichtliche Vorgehen zu fördern und durch Schwerpunktsetzung auf bestimmte wichtige Fragestellungen den Nutzen bestehender Standards zu verstärken. Auf diese Weise trägt die ESMA zur Stärkung des Anlegerschutzes bei (ESMA-Leitlinien zu einigen Aspekten der MiFID-II-Anforderungen an die Angemessenheit und das reine Ausführungsgeschäft, Seite 5 oben).




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