Schadensersatz für schwerbehinderten Arbeitnehmer bei Kündigung ohne Beteiligung des Integrationsamtes

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Was war passiert?


Der klagende Arbeitnehmer war als schwerbehinderter Mensch anerkannt und fühlte sich durch eine von seinem Arbeitgeber ausgesprochene betriebsbedingte Kündigung, die ohne vorherige Beteiligung des Integrationsamtes erging, diskriminiert. Er forderte hierfür die Zahlung einer Entschädigung.

Aus seiner Sicht stelle die ohne Beteiligung des Integrationsamtes erklärte Kündigung eine nach dem AGG verbotene Benachteiligung wegen seiner Behinderung dar.

Der Arbeitgeber hielt einen Entschädigungsanspruch dagegen für unbegründet. Von einer verbotenen Benachteiligung wegen der Behinderung könne nicht einmal im Ansatz die Rede sein, wenn bei der Kündigung die Schwerbehinderung des Klägers schlicht „übersehen“ worden sei.

Das erstinstanzlich mit der Sache befasste Arbeitsgericht Villingen-Schwenningen gab dem Kläger jedoch Recht. Ihm stehe der geltend gemachte Entschädigungsanspruch zu, da er durch die Kündigung eine weniger günstige Behandlung erfahren habe als er erfahren hätte, wenn die Beklagte das Zustimmungsverfahren nach § 168 SGB IX gewahrt hätte. Es genüge, wenn das Diskriminierungsmerkmal - hier die Schwerbehinderung – Bestandteil eines Motivbündels war, das die Entscheidung beeinflusst habe. Gründe, das Verfahren vor dem Integrationsamt nicht durchzuführen, habe die Beklagte nicht ausreichend vorgebracht.

Hiergegen legte der beklagte Arbeitgeber Berufung ein. Zur Begründung führte er an, dass es fehlerhaft sei, allein das Vorliegen eines Diskriminierungsmerkmals ausreichen zu lassen. Der Kläger müsse vielmehr vollen Beweis dafür erbringen, dass er benachteiligt worden sei. Der bloße Ausspruch einer unwirksamen Kündigung stelle dabei in der Regel keine ausreichende Indiztatsache für die Vermutung einer Benachteiligung dar.

Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts:

Mit dieser Begründung konnte er das mit der Berufung befasste Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg letztlich nicht überzeugen. Das Gericht hat die Bejahung des Entschädigungsanspruchs bestätigt.

Danach hat der Beklagte den Kläger entgegen den Vorgaben des AGG sowie des SGB IX unmittelbar i.S.v. § 3 Abs. 1 AGG wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt, womit die Voraussetzungen des § 15 Abs. 2 AGG für einen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung vorlägen. 

Für eine unmittelbare Benachteiligung sei es insbesondere nicht erforderlich, dass der betreffende Grund aus § 1 AGG das ausschließliche oder auch nur ein wesentliches Motiv für das Handeln des Benachteiligenden ist; vielmehr ist der Kausalzusammenhang bereits dann gegeben, wenn die Benachteiligung gemäß § 3 Abs. 1 AGG an einen Grund nach § 1 AGG anknüpft oder durch diesen motiviert ist, wobei schon die bloße Mitursächlichkeit genüge.

Zudem habe der klagende Arbeitnehmer entgegen der Auffassung des beklagten Arbeitgebers den Beweis erbracht, dass nach § 22 AGG die Vermutung gerechtfertigt ist, er sei wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt worden. Er müsse nicht beweisen, dass der Arbeitgeber ihn benachteiligen wollte. Denn auf ein schuldhaftes Verhalten oder gar eine Benachteiligungsabsicht des Arbeitgebers komme es gerade nicht an.

Der klagende Arbeitnehmer habe seiner Darlegungslast bereits dann genügt, wenn er Indizien vorträgt, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen. § 22 AGG sieht für den Rechtsschutz bei Diskriminierungen im Hinblick auf den Kausalzusammenhang eine entscheidende Umkehr der Beweislast vor: 

Wenn im Streitfall der Arbeitnehmer Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen, trägt nun der Arbeitgeber die Beweislast dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteiligung vorgelegen hat. Die Kündigung eines schwerbehinderten Menschen ohne vorherige Einholung der Zustimmung des Integrationsamtes begründet dabei die Vermutung des § 22 AGG, dass er wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt worden ist. Wird gegen den Schutzmechanismus der §§ 168 ff. SGB IX verstoßen, werde der Anschein erweckt, dass dem Arbeitgeber egal ist, wie den Bedürfnissen schwerbehinderter Menschen im bestehenden Arbeitsverhältnis Rechnung getragen werden kann. Es sei dann Sache des Arbeitgebers, diese Vermutung zu widerlegen.

Der klagende Arbeitnehmer habe durch das Übersehen seiner Schwerbehinderung auch eine unmittelbare Benachteiligung nach § 3 Abs. 1 AGG erfahren. Die dafür erforderliche „weniger günstige Behandlung“ bestehe konkret im Unterlassen der zugunsten des schwerbehinderten Klägers einzuhaltenden Verfahrensvorschriften der § 168 ff. SGB IX.

Für die Kausalität sei insbesondere nicht erforderlich, dass dem Arbeitgeber bewusst gewesen ist, dass der Arbeitnehmer schwerbehindert ist. Denn nach der Konzeption des § 22 AGG genüge bereits, dass der

„Anschein einer Diskriminierung“ 

besteht.

Schließlich komme keine Heilung des Verstoßes in Betracht, weil der beklagte Arbeitgeber von der Kündigung im Nachhinein Abstand genommen hat. Eine entsprechende Erklärung vermöge nicht die einmal erfolgte ungünstigere Behandlung aufzuheben und damit einen Entschädigungsanspruch zu beseitigen.

Hinsichtlich der Höhe des Anspruchs hielt das Landesarbeitsgericht in Anbetracht der Schwere des Verstoßes eine Entschädigung von vier Gehältern für gerechtfertigt.

"Vier Bruttogehälter Schdensersatz"


Zu berücksichtigen sei, dass die Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG eine Doppelfunktion habe: Sie dient eben nicht nur der vollen Schadenskompensation, sondern darüber hinaus auch der Prävention. Sie müsse einen tatsächlichen und wirksamen rechtlichen Schutz der aus den Antidiskriminierungsrichtlinien des Unionsrechts hergeleiteten Rechte gewährleisten. Es handele sich auch nicht um ein Kavaliersdelikt, wenn Sonderkündigungsschutzvorschriften nicht beachtet werden. Die Entschädigung muss daher auch sicherstellen, dass sie einen abschreckenden Charakter ausübt und dazu beiträgt, den Sonderkündigungsschutz zukünftig zu wahren.

Fazit:


Die Entscheidung untermauert den Sonderkündigungsschutz von schwerbehinderten Arbeitnehmern. Es wird klargestellt, dass sich Arbeitgeber nicht mit angeblichen „Nichtwissen“ bezüglich einer Schwerbehinderung ihrer Verantwortung entziehen können. Im Prozess wird die Beweisführung für betroffene Arbeitnehmer erleichtert.


LINDEMANN Rechtsanwälte

Rechtsanwalt Stephan Kersten

Fachanwalt für Arbeitsrecht

Foto(s): LINDEMANN Rechtsanwälte

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