Vorgetäuschte Arbeitsunfähigkeit? Beweiswert der AU-Bescheinigung und äußerer Umstände

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Besprechung des Urteils vom 27.07.2021 – 7 Sa 359/20 Landesarbeitsgericht Nürnberg

Der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kann durch äußere Umstände erschüttert werden. Das Urteil des LAG Nürnberg setzt die Rechtsprechung des BAG 5 AZR 149/21 fort.


Was ist passiert?

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung. Die Arbeitnehmerin ist medizinische Fachangestellte in einer Hausarztpraxis. In der Praxis sind vier medizinische Fachangestellte (MFA) und ein Hausarzt beschäftigt. Für die Zeit vom 03.04. bis zum 13.04. war eine Praxisschließung geplant. Jedoch wurde kurz vorher eine Mitarbeiterin positiv auf das Coronavirus getestet. Die Praxismitarbeiter mussten in Quarantäne. Der Arzt, gleichzeitig Arbeitgeber, entschied sich für eine Verlegung der geplanten Praxisschließung. Das sorgte für Unmut bei den Arbeitnehmern, was sie auch offen in einer WhatsApp Gruppe, der auch der Arbeitgeber angehörte, kommunizierten. Eine MFA erhielt zur ursprünglich geplanten Zeit Urlaub, da sie sich in der Zeit ihren Umzug vorgenommen hatte. Die anderen drei waren ab dem 03.04. arbeitsunfähig erkrankt. Am 14.04. kündigte der Arbeitgeber einer MFA, die arbeitsunfähig erkrankt war, außerordentlich fristlos, hilfsweise ordentlich zum nächstmöglichen Termin. Die Arbeitnehmerin wendet sich gegen die außerordentliche Kündigung und verlangt Lohnfortzahlung und Urlaubsabgeltung.


Was hat das LAG entschieden?

Grundsätzlich kommt der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ein hoher Beweiswert für die tatsächliche Arbeitsunfähigkeit zu. Der Beweiswert kann vom Arbeitgeber erschüttert werden, wenn dieser Tatsachen vorträgt und gegebenenfalls beweist, welche geeignet sind, Zweifel an der tatsächlichen Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers zu wecken. In Folge dessen muss sich der Arbeitnehmer konkret zu dessen Erkrankung und gesundheitlichen Einschränkung einlassen. Hierzu zählt auch die Einlassung hinsichtlich der vom Arzt verschriebenen Medikamente sowie der erteilten Verhaltensregeln im Zeitpunkt der Krankschreibung. Gelingt dem Arbeitnehmer der konkrete Sachvortrag ist der Arbeitgeber erneut in der Darlegungs- und Beweislast, den Vortrag des Arbeitnehmers zu widerlegen.


Was bedeutet das für den Ausgangsfall?

Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, dass der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung der MFA erschüttert gewesen ist. Auf Grund des vorherig offen kommunizierten Unmuts zwischen der MFA und dem Arbeitgeber, sowie des Umstandes, dass alle drei MFA im ursprünglich geplanten Urlaubszeitraum arbeitsunfähig erkrankt sein sollen, nimmt das LAG die Erschütterung des Beweiswertes an. Das LAG führt hierzu aus: [dass] „Alle drei vom Urlaubswiderruf betroffenen Arbeitnehmerinnen, die damit nicht einverstanden [waren], erkrankten arbeitsunfähig für einen Zeitraum, der bei allen Arbeitnehmerinnen den gesamten Urlaub vom ersten bis zum letzten Tag abdeckt. Diese gleichlaufenden besonderen Umstände lassen sich nur schwer mit den Launen des Zufalls in Einklang bringen“. Jedoch konnte die Arbeitnehmerin unter Zuhilfenahme ihrer Hausärztin als Zeugin Tatsachen vortragen, die ihre tatsächliche Arbeitsunfähigkeit im maßgeblichen Zeitraum stützt. Dem Arbeitgeber gelang es nicht, nachzuweisen, dass sich die Arbeitnehmerin die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschlichen habe. Die fristlose Kündigung war in Ermangelung eines Kündigungsgrundes unwirksam.


Weiterer interessanter Aspekt des Ausgangsfalls:

Zudem hat sich das LAG zu der Frage eingelassen, ob der Widerruf des Urlaubs seitens des Arbeitgebers wirksam war. Grundsätzlich kann der einmal bewilligte und noch nicht angetretene Urlaub nicht einseitig seitens des Arbeitgebers widerrufen werden. Das Bundesarbeitsgericht (BAG AZR 405/99) hatte bereits 1999 seine Argumentation darauf gestützt, dass das Bundesurlaubsgesetz die Möglichkeit eines Widerrufs des genehmigten Urlaubs nicht vorsieht. Nur ausnahmsweise soll der Arbeitgeber die Möglichkeit haben, den Urlaub zu widerrufen. Hierfür müssen dem Arbeitgeber aber außerordentliche Schäden drohen und dem Arbeitnehmer der Verzicht auf die Einbringung des Urlaubs zum bewilligten Termin zumutbar sein.

Im vorliegenden Fall konnte das Argument des Arbeitgebers, er könne die Praxis nicht vier Wochen am Stück geschlossen halten, den Widerruf des bewilligten Urlaubs nicht tragen. Der Arbeitgeber hatte keine außerordentlichen Schäden bei Durchführung des bewilligten Urlaubs seitens der Arbeitnehmer zu befürchten.



Rechtstipp aus dem Rechtsgebiet

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