Widerrufsmöglichkeit bei Verbraucherdarlehensverträgen und Immobiliardarlehensverträgen

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Mit wegweisendem Urteil vom 26. März 2020 (Az. C-66/19) hat der Gerichtshof der Europäischen Union im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens des Landgerichts Saarbrücken den „Widerrufsjoker“ wieder in den juristischen Fokus gerückt. 

Worum ging es?

Gegenstand der Entscheidung ist eine Vorlagefrage bezüglich der Vereinbarkeit sogenannter „Kaskadenverweise“ als Bestandteil nationaler Widerrufsbelehrungen in Verbraucherkreditverträgen mit dem europäischem Recht. Im Ausgangsverfahren ging es um die fristgemäße Ausübung des Widerrufsrechts in Bezug auf einen zwischen der Kreissparkasse Saarlouis und einem Kunden im Jahre 2012 geschlossenen grundpfandrechtlich gesicherten Verbraucherdarlehensvertrag, welchen der Kunde im Jahr 2016 – lange nach Ablauf der Widerrufsfrist – widerrief.

Bestandteil der vertraglichen Widerrufsbelehrung war folgende Passus:

 „Der Darlehensnehmer kann seine Vertragserklärung innerhalb von 14 Tagen ohne Angabe von Gründen in Textform (z. B. Brief, Fax, E-Mail) widerrufen. Die Frist be ginnt nach Abschluss des Vertrags, aber erst, nachdem der Darlehensnehmer alle Pflichtangaben nach § 492 Abs. 2 BGB (z. B. Angaben zur Art des Darlehens, Anga ben zum Nettodarlehensbetrag, Angabe zur Vertragslaufzeit) erhalten hat.“

Folgt man dem entsprechenden Verweis in der Widerrufsbelehrung, so fällt auf, dass § 492 Abs. 2 BGB seinerseits auf Artikel 247 §§ 6 – 13 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB) verweist. Diese Art der Verweisungstechnik wird als „Kaskadenverweis“ bezeichnet. Für den Verbraucher sind die für den Fristbeginn maßgeblichen Pflichtangaben somit nicht unmittelbar aus der Widerrufsbelehrung erkennbar, sondern es bedarf der genauen Lektüre verschiedener, teils sehr unübersichtlicher Normen durch einen juristischen Laien.

Diese Bedenken teilte auch das LG Saarbrücken und legte die Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vor.

EuGH erteilt Kaskadenverweisen eine Absage

Just an diesem Umstand nahm auch der EuGH Anstoß und entschied, dass die maßgeblichen Vorschriften der Richtlinie 2008/48 solchen Kaskadenverweisen in Verbraucherkreditverträgen entgegenstehen.

Gemäß Artikel 10 Abs. 2 lit. p) der Richtlinie 2008/48 sind im Kreditvertrag nämlich in klarer, prägnanter Form das Bestehen oder Nichtbestehen eines Widerrufsrechts sowie die Frist und die anderen Modalitäten für die Ausübung des Widerrufsrechts anzugeben. Der Erhalt dieser Informationen ist nach Art. 14 Abs. 1 lit b) der Richtlinie 2008/48 maßgeblich für den Fristbeginn des Widerrufsrechts.

So führt der EuGH aus: „ Das vorlegende Gericht stellt somit fest, dass die Pflichtangaben, deren Erteilung an den Verbraucher gemäß Art. 10 Abs. 2 Buchst. p und Art. 14 Abs. 1 Unterabs. 2 der Richtlinie 2008/48 für den Beginn der Frist für den Widerruf des Vertrags maßgeblich sei, als solche nicht in dem in Rede stehenden Vertrag enthalten seien. Um sie herauszufinden, müsse sich der Verbraucher daher mit einer Vielzahl nationaler Bestimmungen beschäftigen, die in verschiedenen Gesetzeswerken enthalten seien. (…) Verweist aber ein Verbrauchervertrag hinsichtlich der Informationen, die nach Art. 10 der Richtlinie 2008/48 anzugeben sind, auf bestimmte Vorschriften des nationalen Rechts, so kann der Verbraucher auf der Grundlage des Vertrags weder den Umfang seiner vertraglichen Verpflichtung bestimmen noch überprüfen, ob der von ihm abgeschlossene Vertrag alle nach dieser Bestimmung erforderlichen Angaben enthält, und erst recht nicht, ob die Widerrufsfrist, über die er verfügen kann, für ihn zu laufen begonnen hat. (…) In einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens ist daher festzustellen, dass ein Verweis in dem in Rede stehenden Vertrag auf die nationalen Rechtsvorschriften entsprechend der Darstellung oben in Rn. 41 nicht dem vorstehend in den Rn. 43 bis 47 behandelten Erfordernis genügt, den Verbraucher gemäß Art. 10 Abs. 2 Buchst. p der Richtlinie 2008/48 in klarer, prägnanter Form über die Frist und die anderen Modalitäten für die Ausübung des Widerrufsrechts zu informieren.“ (EuGH, Urteil vom 26. März 2020, Az. C-66/19, Rn. 40-49)

Kaskadenverweise sind somit mit dem Gedanken von Prägnanz und Klarheit für Verbraucher schwer zu vereinbaren. Folgerichtig ist insoweit auch das Urteil des EuGH. Dieses hat zur Folge, dass die entsprechenden Musterwiderrufsbelehrungen nach europäischen Maßstäben unvollständig und unrichtig sind. Konsequenterweise muss dies dazu führen, dass die entsprechende Widerrufsfristen nie zu laufen begonnen haben und die entsprechenden Verträge auch noch Jahre später widerruflich sind.

Konsequenzen und Ausblick

Betroffen von dieser Entscheidung sind zahlreiche Allgemein-Verbraucherdarlehensverträge, die ab dem 11. Juni 2010 geschlossen wurden sowie Immobiliar-Verbraucherdarlehensverträge, die im Zeitraum vom 11. Juni 2010 bis zum 20. März 2016 geschlossen wurden.

Von besonderem Interesse ist ein mögliches Wiederaufleben des „Widerrufsjokers“ bei bestimmten Verbraucherdarlehensverträgen. Insbesondere widerrufene Immobiliar-Verbraucherdarlehensverträge lassen sich durch Aufnahme eines zinsgünstigeren Darlehens ohne Zahlung einer Vorfälligkeitsentschädigung mit deutlicher Ersparnis umschulden.

Abzuwarten bleibt, wie das Landgericht Saarbrücken den Rechtsstreit entscheiden wird und wie andere deutsche Gerichte – insbesondere der Bundesgerichtshof – mit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs umgehen werden. So hat der BGH zuletzt mit Beschluss vom 19. März 2019 – XI ZR 44/18 die Praxis der Kaskadenverweise noch ausdrücklich gebilligt und eine Anwendbarkeit der Richtlinie 2008/48 auf Immobiliar-Verbraucherdarlehensverträge verneint.

In Fällen, in denen Kreditinstitute die gesetzliche Musterwiderrufsbelehrung verbatim, vollständig und ohne Änderungen übernommen haben, ist es möglich, dass wegen der Gesetzlichkeitsvermutung der Musterwiderrufsbelehrung die nationalen Gerichte in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dennoch von einer richtigen Widerrufsbelehrung ausgehen werden.

Sicher ist indes, dass das Urteil des EuGH zu einem erheblichen Anstieg rechtlicher Auseinandersetzungen zwischen Kreditinstituten und Verbrauchern führen wird. Die Kreditinstitute werden die Widerrufe und die Rückabwicklung der Darlehensverträge unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes höchstwahrscheinlich nicht akzeptieren. Umso wichtiger ist es, dass Sie Ihren Kreditvertrag nicht einfach widerrufen, sondern sich anwaltlich beraten lassen.



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