Das Absehen von Strafe – Eine Norm, die nicht jeder kennt

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Einleitung:

Selbst wenn man eine Straftat schuldhaft begangen hat, kann ein Strafgericht nach § 60 Strafgesetzbuch (StGB) gänzlich von Strafe absehen. Das Gericht kann dies tun, wenn die Folgen der Tat, die den Beschuldigten getroffen haben, so schwer sind, dass die Verhängung einer Strafe offensichtlich verfehlt wäre. Dies ist dann der Fall, wenn der Beschuldigte durch die Tat bereits einen hohen, zum Beispiel wirtschaftlichen oder persönlichen, Schaden erlitten hat und die zusätzliche Verhängung einer Strafe auf ihn keinen Eindruck mehr macht und nutzlos erscheint. Ein Beispiel wäre, dass der Beschuldigte nach einem Unfall nach einer Trunkenheitsfahrt den Führerschein und die Fahrerlaubnis und vielleicht noch die Arbeit verloren hat und so schon „ausreichend bestraft“ ist.

Das Absehen von Strafe kann aber nur bei Straftaten in Frage kommen, wenn der Beschuldigte zu einer Freiheitsstrafe von nicht mehr als einem Jahr verurteilt worden wäre. Wenn das Gericht von Strafe absehen möchte, muss es alle Umstände von Tat und Beschuldigten in einer Gesamtwürdigung betrachten und abwägen.

Der Bundesgerichtshof musste nun entscheiden, ob beim Schütteln eines Säuglings mit anschließendem fahrlässigem Tod ein Absehen von Strafe nach § 60 StGB möglich ist.

Entscheidung:

Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Der Angeklagte ist zu 60 % schwerbehindert und in seiner kognitiven und psychischen Entwicklung stark gestört. Er ist unter Betreuung gestellt und musste bereits eine geraume Zeit in einer psychiatrischen Klinik untergebracht werden. Er kann lediglich einfachsten Sätzen und diesen teilweise auch nur in bildlicher Sprache folgen.

Nach der Geburt seines Sohnes war der Angeklagte, der mit der Kindesmutter zusammenwohnte, überfordert, weil er neben seiner beruflichen Anstellung auch noch die Pflege und Erziehung des Kindes übernehmen musste. Die Kindesmutter vernachlässigte das Kind, weil sie häufiger Diskotheken besuchte.

Am Abend der Tat wurde der Beschuldigte vom Schreien seines Kindes geweckt. Er versuchte, ihn zu beruhigen. Dabei schüttelte er ihn mehrmals kräftig. Das Kind erlitt durch das Schütteln eine Ateminsuffiziens, worauf es an Atemnot bewusstlos wurde und starb.

Dem Angeklagten war nicht bewusst, dass er dem Kind durch das Schütteln schadet oder ihm Schmerzen und Verletzungen zufügt. Dazu fehlten ihm die kognitiven Fähigkeiten.

Das Landgericht hat den Angeklagten der fahrlässigen Tötung für schuldig gesprochen. Es hat jedoch von einer Verhängung der Strafe nach § 60 StGB abgesehen.

Dem ist der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung gefolgt. Eine vorsätzliche Tötung liegt nicht vor. Weil der Angeklagte aufgrund seiner Kognitionsdefizite nicht in der Lage war zu erkennen, dass das Schütteln des Kindes schwere Verletzungen oder gar den Tod des Kindes verursachen kann, liegt kein Tötungsvorsatz vor. Eine fahrlässige Tötung liegt aber nach Ansicht des Landgerichts und des Bundesgerichtshofs vor. Der Tod war auch für den Angeklagten vorhersehbar und vermeidbar.

Das Absehen von Strafe ist nach Ansicht des BGH rechtmäßig erfolgt. Der Beschuldigte war ein liebender und fürsorglicher Familienvater und mit der Erziehung des Kindes neben seiner beruflichen Tätigkeit überfordert. Nach der Tat war er emotional sehr betroffen und zeigte Reue. Er musste psychologische Behandlung in Anspruch nehmen. Obwohl die Beziehung mit der Kindesmutter zerbrochen war, hält die Kindesmutter auch nach dem Tod des Kindes weiter zum Kindesvater.

Das Landgericht und der BGH halten die Folgen des Todes des Kindes für den Beschuldigten als so gravierend und die Tatsituation als so außergewöhnlich, dass ein Absehen von Strafe nach Abwägung aller Umstände von Tat und Beschuldigten gerechtfertigt ist.

Zusammenfassung und Ausblick:

Wenn bei einer Straftat zu erwarten ist, dass das Strafmaß nicht mehr als ein Jahr Freiheitsstrafe beträgt, kann ein Strafverteidiger prüfen, ob ein Absehen von Strafe nach § 60 StGB in Betracht kommt und dies dem Gericht vorschlagen. Dies kann auch bei besonderen Umständen bei besonders schweren Folgen der Tat, wie vorliegend der Tod eines Kleinkindes, erfolgen. Wenn der Beschuldigte durch die Folgen der Tat so schwer getroffen ist, dass die zusätzliche Verhängung einer Strafe als nutzlos erscheint, kann das Gericht von Strafe absehen. Hat die Tat für das Opfer allerdings eine sehr schwere Folge, müssen noch besondere Umstände bei Tat oder Beschuldigten vorliegen, um gänzlich von Strafe absehen zu können. Dies können Kognitionsdefizite beim Beschuldigten oder eine besondere Situation bei Begehung der Tat sein, wie hier im Fall eine besondere persönliche Belastungssituation.

Rechtsanwalt Steffen Dietrich arbeitet seit vielen Jahren als Strafverteidiger in Berlin. Er wird bei Mandanten, gegen die ein Ermittlungsverfahren geführt wird, auch die Möglichkeit prüfen, dass ein Gericht von Strafe gänzlich absieht. Sollten Sie bereits Kenntnis von einem Ermittlungsverfahren gegen Sie erlangt haben, sollten Sie einen Strafverteidiger konsultieren und von Ihrem Schweigerecht Gebrauch machen.


Rechtstipp aus dem Rechtsgebiet

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