Schwere Ellenbogenverletzung übersehen – 60.000 € Schmerzensgeld

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LG Arnsberg, 15.03.2016, AZ I-5 O 31/14

Unser damals 14-jähriger Mandant zog sich im Jahr 2010 auf dem Schulhof eine Ellenbogenverletzung zu. Der behandelnde Durchgangsarzt (D-Arzt) übersah auf den Röntgenbildern die deutlichen sogenannten Fat-Pad-Signs (Fettpolsterzeichen) und diagnostizierte eine Verstauchung oder Zerrung. Tatsächlich war es aber zu einer knöchernen Verletzung des Radiusköpfchens und einer Verletzung des Capitulum humeri mit Beteiligung der Wachstumsfuge gekommen. Mangels Ruhigstellung verschob sich die Fraktur weiter und verheilte in Fehlstellung, sodass drei Nachoperationen erforderlich waren. Auch das Handgelenk war betroffen. Die Ulna musste verkürzt und das Radiusköpfchen entfernt werden. Die Funktion des Ellenbogens und die Belastbarkeit des Arms sind dauerhaft eingeschränkt. Mit einer zukünftigen Verschlechterung ist zu rechnen.

Bei richtiger Diagnose und entsprechender fachgerechter Behandlung wäre die schwere Ellenbogenverletzung – so der Sachverständige – vermutlich dauerhaft und ohne Folgen ausgeheilt.

Änderung der BGH-Rechtsprechung zur Erstversorgung durch D-Arzt

Für Schulunfälle obliegt die Heilbehandlung der Unfallkasse bzw. Berufsgenossenschaft. Diese nehmen öffentlich-rechtliche Aufgaben wahr. Damit kommen grundsätzlich Amtshaftungsansprüche in Betracht. Die Erstversorgung durch den D-Arzt wurde vom Bundesgerichtshof gleichwohl über lange Jahre als privatrechtliche Tätigkeit eingeordnet (BGH, Urteil vom 12.09.1974, AZ III ZR 131/72; Beschluss vom 04.03.2008). Der Grundgedanke, dass ärztliche Heilbehandlung – von hier nicht gegebenen Ausnahmefällen abgesehen – nicht Ausübung eines öffentlichen Amts sei, müsse auch für die Tätigkeit des mit berufsgenossenschaftlicher Heilbehandlung betrauten Arztes gelten. 

Diese Rechtsprechung hat der BGH in seinem Urteil vom 29.11.2016 schließlich aufgegeben und klargestellt, dass eine Erstversorgung durch den Durchgangsarzt der Ausübung eines öffentlichen Amts zuzurechnen ist mit der Folge, dass die Unfallversicherungsträger für etwaige Fehler in diesem Bereich haften. Da der D-Arzt regelmäßig in engem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit der Entscheidung über das „Ob“ und „Wie“ der Heilbehandlung und mit den diese vorbereitenden Maßnahmen auch als Erstversorger tätig werde, seien bei dieser Tätigkeit unterlaufende Behandlungsfehler der Berufsgenossenschaft zuzurechnen. Denn diese Tätigkeiten gingen ineinander über, könnten nicht sinnvoll auseinandergehalten werden und stellten auch aus Sicht des Geschädigten einen einheitlichen Lebensvorgang dar, der nicht in haftungsrechtlich unterschiedliche Tätigkeitsbereiche aufgespalten werden könne. 

Gleichzeitig gab der BGH seine Rechtsprechung zur „doppelten Zielrichtung“ der Diagnosestellung durch den D-Arzt und der sie vorbereitenden Maßnahmen mit der Entscheidung über die richtige Heilbehandlung auf. Wegen des regelmäßig gegebenen inneren Zusammenhangs seien jene Maßnahmen ebenfalls der öffentlich-rechtlichen Aufgabe des Durchgangsarztes zuzuordnen. Der D-Arzt haftet für Fehler in diesem Bereich nicht persönlich.

Rechtsanwältin Viktoria von Radetzky

Fachanwältin für Medizinrecht



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