Steuerrecht: Tatsächlicher Unternehmenssitz - Jüngste Urteile des italienischen Kassationsgerichtshofs

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Der Kassationsgerichtshof hat sich mit den Urteilen Nr. 11709 und 11710 vom 11. April 2022 erneut mit dem Thema "esterovestizione" befasst, was wörtlich übersetzt soviel wie "ausländisch gekleidete" Gesellschaften bedeutet.

Die Frage der "ausländisch gekleideten" Unternehmen war im Laufe der Jahre Gegenstand zahlreicher Urteile des Obersten Gerichtshofs. Dieser hat sie in zahlreichen Urteilen definiert als "die fiktive Verlegung des Steuersitzes eines Unternehmens ins Ausland, in ein Land mit einer vorteilhafteren steuerlichen Behandlung als das inländische, um das belastendere nationale System zu umgehen". Mit anderen Worten, es handelt sich um ein Unternehmen, das vorgibt, im Ausland ansässig zu sein, um nicht dem italienischen Steuersystem zu unterliegen, das aber in Wirklichkeit gemäß den gesetzlichen Bestimmungen in Italien ansässig ist.   

Artikel 73 des DPR 917/1986 (italienisches Steuergesetzbuch) enthält drei Indikatoren, anhand derer festgestellt werden kann, ob ein Unternehmen in Italien ansässig ist. Der Artikel besagt, dass "Gesellschaften und Körperschaften als ansässig gelten, wenn sie ihren Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihren Hauptzweck während des größten Teils des Steuerzeitraums im Hoheitsgebiet des Staates haben".  

Es sei jedoch daran erinnert, dass ein Unternehmen, das seine Geschäftstätigkeit ins Ausland verlagert, nicht per se ein Ausweich- oder missbräuchliches Verhalten im Sinne des Grundsatzes der Niederlassungsfreiheit an den Tag legt, wonach die Steuerpflichtigen im Allgemeinen frei sind, die Organisationsstrukturen und Betriebsmethoden zu wählen, die sie für ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten für am besten geeignet halten, auch wenn sie dadurch eine günstige steuerliche Behandlung erhalten.   

Um einen Missbrauch der Niederlassungsfreiheit und somit einen fiktiven "Unternehmenstransfer" festzustellen, muss geprüft werden, ob der Transfer ins Ausland tatsächlich erfolgt ist und der tatsächlichen Ausübung einer wesentlichen und dauerhaften wirtschaftlichen Tätigkeit im Gastland entspricht. Es muss erkennbar sein, dass der eingeleitete Vorgang künstlich ist und die Errichtung einer fiktiven Struktur beinhaltet, die nicht der wirtschaftlichen Realität entspricht.  

Im Zusammenhang mit den Urteilen des Obersten Gerichtshofs und dem von der "Guardia di Finanza" bewerteten Fall ging es um ein Unternehmen mit Sitz in China, eine Tochtergesellschaft eines italienischen Unternehmens, das Elektrogeräte herstellt.   

Zu den Faktoren, die die Richter veranlassten, dieses Unternehmen als in Italien steuerlich ansässig zu betrachten, zählten:

  • die Anwesenheit von drei in Italien ansässigen natürlichen Personen im Vorstand des chinesischen Unternehmens
  • zwei der genannten Direktoren waren während der relevanten Steuerzeiträume nie in China gewesen, während der dritte, obwohl er dort gewesen war, nach eigenen Angaben das Land besucht hatte, um Tätigkeiten auszuüben, die nichts mit seiner Rolle als Vorstandsmitglied zu tun hatten   
  • die genannten Geschäftsführer hatten ebenso leitende Funktionen in dem italienischen Unternehmen inne, das die chinesische Tochtergesellschaft kontrollierte.  

Zusammenfassend wurde also beanstandet, dass diese Geschäftsführer, auch über die von ihnen geleiteten Abteilungen der italienischen Muttergesellschaft, die Weisungen für die administrative und operative Leitung der ausländischen Gesellschaft erteilten, während die lokalen Manager über keine wesentlichen Befugnisse verfügten (auch nicht in Bezug auf die kaufmännische Leitung in vertraglichen und kommerziellen Fragen). Daher wurde davon ausgegangen, dass sich der Sitz der chinesischen Tochtergesellschaft in Italien befindet und dass (gemäß Artikel 73 Absatz 3 des konsolidierten Einkommensteuergesetzes) diese Gesellschaft als in unserem Land ansässig zu betrachten ist.   

Die Urteile des Obersten Gerichtshofs, die die obige Zusammenfassung ausführlich begründen, heben einen interessanten Punkt in Bezug auf das Konzept der "missbräuchlich" gekleideten ausländischen Gesellschaften hervor. In der Tat hat der Oberste Gerichtshof klargestellt, wie das Verhältnis und die Funktion von Art. 73 Abs. 3 TUIR lediglich darin bestehen, die Kriterien für die Verbindung zwischen den Steuerpflichtigen und dem Gebiet des italienischen Staates anzugeben. Daher muss bei der Anfechtung von "ausländisch gekleideten Gesellschaften" auf der Grundlage dieser Vorschrift nicht unbedingt das Vorhandensein eines Steuervorteils berücksichtigt werden, den die Gesellschaft aus der Niederlassung in einem ausländischen Staat ziehen kann. Mit anderen Worten: Unternehmen, die als ausländisch investiert eingestuft werden, sind nicht immer missbräuchliche Strukturen, sondern ihr steuerlicher Sitz in Italien kann auch anhand der Kriterien der oben genannten Verordnung festgestellt werden.   

Ein weiterer interessanter Punkt ist die vom Gericht getroffene Auslegung des Begriffs des "Ortes der tatsächlichen Geschäftsführung". Der Oberste Gerichtshof hat klargestellt, dass dieser Begriff mit dem Ort übereinstimmt, an dem die Gesellschaftsorgane die für die Ausübung der Tätigkeit erforderlichen Impulse geben (wie z. B. der Ort, an dem die Leitungs- und Verwaltungstätigkeiten ausgeübt werden, an dem die Sitzungen der obersten Organe stattfinden usw.), und hat seine Analyse fortgesetzt, indem er zu dem Schluss kam, dass die in Artikel 73 Absatz 3 genannten Kriterien in Verbindung mit weiteren Hinweisen auf den Ort zu lesen sind, an dem die Haupttätigkeit einer Gesellschaft ausgeübt wird. Denn der Ort, an dem der Hauptzweck der Gesellschaft ausgeübt wird, wäre keine Voraussetzung, sondern würde den Begriff des tatsächlichen Sitzes integrieren.  

Schlussfolgerungen  

Der Oberste Gerichtshof hat ein sehr wichtiges Thema behandelt, das seit vielen Jahren diskutiert wird und zu dem sich multinationale Konzerne immer wieder Fragen stellen müssen, wenn es um die Struktur und die Leitung ausländischer Gesellschaften geht, die von italienischen Gesellschaften kontrolliert werden, insbesondere um die Organisation der ordentlichen Verwaltung der Gesellschaft und der mit dieser Aufgabe betrauten Personen, die Teil des Verwaltungsorgans sind.

Foto(s): frrepik

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