Verfassungsbeschwerde: Das Bundesverfassungsgericht entdeckt die EU-Grundrechte

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Bislang war es so, dass in einer Verfassungsbeschwerde immer nur die Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte im Grundgesetz geprüft wurden. Wer sich vom Staat in seinen Rechten verletzt sah, musste vorbringen, welches dieser Grundrechte ihn schützen soll.

Rechte aus der Europäischen Menschenrechtskonvention können insoweit allenfalls zur Auslegung herangezogen werden (sog. „mittelbare Verfassungsbeschwerdefähigkeit“ – diese werden aber mit der Menschenrechtsbeschwerde und nicht mit der Verfassungsbeschwerde durchgesetzt. Europäische Grundrechte, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-Grundrechtecharta) stehen, sind zwar durch die nationalen Gerichte anzuwenden, können aber für sich genommen keine Verfassungsbeschwerde begründen.

Von dieser Rechtsprechung ist das Bundesverfassungsgericht nun abgewichen und hat eine Verfassungsbeschwerde erstmals allein an EU-Grundrechten geprüft (Beschluss vom 06.11.2019, Az. 1 BvR 276/17).

Im Ausgangsverfahren ging es um spezielle datenschutzrechtliche Fragen in Bezug auf Presseveröffentlichungen im Internet. Dies ist prinzipiell völlig zweitrangig zur Beurteilung der Rechtsfrage. Gleichzeitig ist dies aber der entscheidende Hintergrund.

EU-Vereinheitlichung betrifft auch Grundrechte

Denn weil es in diesem Rechtsbereich ein vollständig vereinheitlichtes EU-Recht gibt, erklärte das Bundesverfassungsgericht das deutsche Recht für vollständig verdrängt. Es gibt kein deutsches Internet-Presse-Datenschutzrecht, sondern nur noch ein EU-weites Internet-Presse-Datenschutzrecht.

Daraus folgt dann im Weiteren, dass auch die Grundrechte des Grundgesetzes durch die Grundrechte der EU-Grundrechtecharta verdrängt werden. Diese sind daher aus Sicht des BVerfG überhaupt nicht mehr anwendbar.

Begründet wird dies mit dem Verlangen nach Rechtsvereinheitlichung seitens der Europäischen Union:

„Wenn die Union im Rahmen dieser Befugnisse Regelungen schafft, die in der gesamten Union gelten und einheitlich angewendet werden sollen, muss auch der bei Anwendung dieser Regelungen zu gewährleistende Grundrechtsschutz einheitlich sein. Diesen Grundrechtsschutz gewährleistet die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Die deutschen Grundrechte sind in diesen Fällen nicht anwendbar, weil dies das Ziel der Rechtsvereinheitlichung konterkarieren würde.“

Weil also deutsche Grundrechte – wohlgemerkt: Bürgerrechte zur Abwehr staatlicher Übergriffe – einem EU-weit gleichen Recht entgegenstehen könnten, werden sie einfach außer Kraft gesetzt.

Grundrechtsschutz nun via EU-Charta

Der Grundrechtsschutz durch das Bundesverfassungsgericht wird allerdings nicht verdrängt, da dies die im Grundgesetz vorgesehene Rechtsschutzgarantie unterlaufen würde. Daher muss das BVerfG, wenn es eine wirksame Rechtskontrolle garantieren möchte, auf die EU-Grundrechte zurückgreifen. Eine ähnliche Entscheidung hatte bereits der österreichische Verfassungsgerichtshof im Jahr 2012 getroffen.

Da nun aber drohen könnte, dass das Bundesverfassungsgericht die Grundrechte aus der EU-Charta anders auslegt als ein finnisches Verwaltungsgericht oder ein portugiesischer Strafrichter, bestünde doch wieder die Gefahr einer uneinheitlichen Rechtsprechung. Um dem zu begegnen, kündigt das BVerfG gleich an, dass es in Zweifelsfällen eine Anfrage an den Europäischen Gerichtshof gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV („Vorabentscheidungsverfahren“) richten wird.

Das Bundesverfassungsgericht hat nun die EU-Grundrechte als Prüfungsmaßstab im vorliegenden Verfahren herangezogen, ist aber zu dem Schluss gelangt, dass diese Grundrechte nicht verletzt waren.

Auswirkung auf künftige Verfassungsbeschwerden

Bei kommenden Verfassungsbeschwerden muss man diese Entscheidung natürlich genau beachten. Bei der Überlegung, welche Grundrechte betroffen sein könnten, reicht ein Blick ins Grundgesetz allein möglicherweise nicht mehr. Für die Frage der (alleinigen) Anwendbarkeit von EU-Grundrechten werden immer auch fundierte Kenntnisse im EU-Recht notwendig sein.

Freilich sind auch die EU-Grundrechte nichts wesentlich Anderes als diejenigen im Grundgesetz. Es gibt ähnliche Grundrechte mit ähnlicher Reichweite, die eine ähnliche Grundrechtsdogmatik verfolgen. In Details können sich die Rechtsgarantien aber doch unterscheiden.

Selbstbehauptung und Unterordnung des BVerfG

Interessant ist aber doch der Ansatz, den das Bundesverfassungsgericht hier verfolgt, um zu diesem Ergebnis zu kommen:

  • Vollständig vereinheitlichtes EU-Recht verdrängt nationales Recht vollständig.
  • Damit werden auch die GG-Grundrechte unanwendbar.
  • Stattdessen erfüllen die Charta-Grundrechte deren Schutzfunktion.
  • Die Charta-Grundrechte werden durch das BVerfG geprüft.
  • Die Rechtsanwendung des BVerfG steht aber unter dem Vorbehalt der EuGH-Rechtsprechung.

Das Bundesverfassungsgericht behält sich also die Entscheidungsgewalt auch über EU-Recht grundsätzlich vor, erklärt sich also nicht für unzuständig. Zugleich ordnet es sich aber dem EU-Gerichtshof unter.

Diese neuen Grundrechte eröffnen prinzipiell neue Chancen, auch deswegen, weil es hierzu oftmals noch keine derart gefestigte Rechtsprechung wie zum Grundgesetz gibt. Die Charta ist erst seit ziemlich genau zehn Jahren in Kraft.

Entwicklung bleibt abzuwarten

Gleichzeitig muss man aber auch beachten, dass diese unmittelbare Geltung nur in EU-weit vollständig und unmittelbar harmonisierten juristischen Themen zum Tragen kommt. Dies sind derzeit noch relativ wenige Rechtsbereiche. Die Tendenz dürfte aber dazu gehen, immer mehr rechtliche Fragen EU-weit vollständig zu regeln. Damit haben es die EU-Organe aber durch einfache Rechtsetzungsakte in der Hand, das nationale Verfassungsrecht auszuhebeln.

Denkbar ist aber auch, dass sich diese Rechtsprechung weiterentwickelt und die Charta-Grundrechte auch in andere Rechtsgebiete vordringen und nationale Grundrechte zunehmend ersetzen oder modifizieren. Dass sich dies positiv auf den Schutz der Bürgerrechte auswirken wird, muss leider bezweifelt werden. 


Rechtstipp aus den Rechtsgebieten

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