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Vorsicht beim Vorbeifahren

  • 3 Minuten Lesezeit
Christian Günther anwalt.de-Redaktion

[image]Eine bekannte Verkehrsszene, wie sie viele tagtäglich im Berufsverkehr erleben: Man fährt auf eine Kreuzung zu, an der man links abbiegen will. Die Linksabbiegerspur ist frei, aber auf der Geradeausspur wartet eine lange Schlange von Fahrzeugen. Man setzt den Blinker und wechselt also auf die Linksabbiegerspur. Plötzlich kommt ein Fahrzeug von rechts aus einer Lücke in der Reihe der wartenden Fahrzeuge, um auf die Fahrbahn zu gelangen. Weil der Vorbeifahrende damit oft nicht rechnet, dem Lückennutzer hingegen durch die wartenden Fahrzeuge die Sicht versperrt ist, kracht es dann nicht selten. Wer haftet wie in solchen und vergleichbaren Fällen?

Erhöhte Rücksichtnahme verlangt

Die Antwort auf die Frage, wer schuld an solch einem Unfall trägt, hängt stark vom Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme ab: Die Verkehrsteilnahme erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht. Verkehrsteilnehmer haben sich so zu verhalten, dass sie keine anderen schädigen, gefährden oder mehr, als nach den Umständen unvermeidbar, behindern oder belästigen. Auf den konkreten Fall übertragen heißt das: Wer an wartenden Fahrzeugen vorbeifährt, kann, auch wenn es erlaubt ist, nicht einfach auf sein Vorfahrtsrecht vertrauen. So sieht es die gängige Gerichtspraxis, die manche als Lückenfallrechtsprechung bezeichnen.

Bei erkennbaren Verkehrslücken muss so gefahren werden, dass vor plötzlich daraus hervorkommenden Verkehrsteilnehmern gebremst werden kann. Das erfordert neben einer entsprechend angepassten Geschwindigkeit auch einen gewissen Seitenabstand von der Kolonne einzuhalten. Denn nur dann können sich aus der Lücke kommende Fahrer so weit vortasten, bis sie eine ausreichende Sicht erlangen. Daneben entscheiden über eine erhöhte Haftung des Vorbeifahrenden neben zu hoher Geschwindigkeit natürlich auch Verkehrsverstöße wie das Überfahren von Sperrflächen oder ein Überholen trotz Überholverbots. Aufseiten des Unfallgegners gilt Entsprechendes, etwa das Überfahren durchgezogener Linien oder ein plötzliches Herausschießen aus der Lücke.

Unter Anwendung dieser Kriterien kam das Oberlandesgericht (OLG) Hamm zu einer Haftungsquote von einem Drittel eines überholenden Motorradfahrers, der mit einer aus einer nicht vorfahrtsberechtigten Querstraße durch eine Lücke kommenden Autofahrerin zusammengestoßen war. Das Überholen war dort zwar erlaubt. Es herrschte jedoch dichter Verkehr, die Lücke war für den Biker erkennbar und sein Überholabstand zur Kolonne zu gering (OLG Hamm, Urteil v. 23.04.2013, Az.: 9 U 12/13).

Besonderheiten bei Grundstücksausfahrten

Für das Landgericht (LG) Saarbrücken war die Lückenfallrechtsprechung bei einer aus einer Tankstellenausfahrt durch die Lücke kommenden Frau, die mit einem vorbeifahrenden Auto kollidierte, hingegen weniger entscheidend. Die Richter schlossen sich damit einer unter Gerichten umstrittenen Ansicht an. Derzufolge muss, wer aus einem Grundstück durch eine Lücke in den fließenden Verkehr einfährt, verglichen mit Vorbeifahrern erheblich vorsichtiger sein. Letztere dürfen wesentlich stärker auf ihr Vorfahrtsrecht vertrauen.

Sie haben nur den ausreichenden Abstand zur Kolonne einzuhalten sowie bei lange im Voraus erkennbarem Einfahren anderer Fahrzeuge entsprechend auf diese Rücksicht zu nehmen. Ein missachtetes Überholverbot soll Lückennutzern hier hingegen nicht nützen. Es wirke nur zugunsten derjenigen Verkehrsteilnehmer, die sich bereits auf der gleichen Straße befinden und Vorrang gegenüber nicht vorfahrtsberechtigten einfahrenden Fahrzeugen genießen. Einen zu geringen Abstand und die Erkennbarkeit der Situation konnte die aus der Grundstücksausfahrt kommende Fahrerin jedoch nicht beweisen. Somit galt der Anscheinsbeweis zugunsten des Beklagten. Da auch die Berufung keine neuen Erkenntnisse brachte, blieb es bei der Alleinschuld der Einfahrenden (LG Saarbrücken, Urteil v. 16.11.2012, Az.: 13 S 117/12).

Kollision mit Linksabbieger in der Schlange

Eine weitere Gefahr beim Überholen wartender Fahrzeuge sind Linksabbieger in der Schlange, die einem plötzlich den Weg versperren. Einen solchen Verkehrsunfall hatte erneut das OLG Hamm zu entscheiden. Die Unfallbeteiligten: ein Mopedfahrer und eine Autofahrerin. Der Zweiradfahrer überholte gerade eine Fahrzeugkolonne, in der sich die Frau befand. Auf Höhe der Autofahrerin angelangt, bog diese plötzlich nach links in ein Grundstück ein. Zu spät zum Bremsen für den Kradfahrer, es kam zum Crash. Das OLG Hamm sah hier eine Teilschuld des Mokickfahrers von 75 Prozent, denn an der Stelle herrschte Überholverbot. Für ihn erschwerend kam hinzu, dass er der Fahrerin keinen Fehler beim Abbiegen nachweisen konnte. Ihr Anteil an der Haftungsquote von einem Viertel ergab sich somit allein aufgrund der Betriebsgefahr ihres Fahrzeugs (OLG Hamm, Urteil v. 09.07.2013, Az.: 9 U 191/12).

(GUE)

Foto(s): ©Fotolia.com

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