Welchen Beweiswert hat eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung?

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Grundsätzlich geht das Bundesarbeitsgericht (BAG) davon aus, dass Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen von den Ärzten korrekt ausgestellt werden.

Rechtliche Hintergründe:

Mit der Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kann ein Arbeitnehmer* beweisen, dass er arbeitsunfähig erkrankt war. Im arbeitsgerichtlichen Prozess kann das Gericht der Tatsacheninstanz, dem die Feststellung der Tatsachen obliegt, normalerweise den Beweis einer in Streit stehenden krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als erbracht ansehen, wenn der Arbeitnehmer im Rechtsstreit eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt.

Nach aller Lebenserfahrung kommt einer im Inland ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im Rahmen der richterlichen Beweiswürdigung ein hoher Beweiswert zu, ähnlich einer tatsächlichen Vermutung für das Vorliegen einer Arbeitsunfähigkeit. Zwar liegt die Hürde für den Arbeitgeber hoch, aber er ist rechtlich nicht gehindert, die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers mit Erfolg zu bestreiten: Hierfür muss er tatsächliche Umstände, die zu ernsthaften Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit Anlass geben, darlegen und ggf. beweisen.

Indizien, die anerkanntermaßen zur Erschütterung des Beweiswertes einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung führen können, sind z.B.:

  • die Ankündigung des Fernbleibens von der Arbeit als Drohmittel;
  • die wiederholte Arbeitsunfähigkeit im zeitlichen Zusammenhang mit Urlaub, Feiertagen oder Wochenenden oder
  • die über § 5 Abs. 3 Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie hinausgehende Rückdatierung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung um mehr als zwei Tage.

Ist der Beweiswert erschüttert, obliegt es dem Arbeitnehmer weiteren Beweis für die Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erbringen.


Demgegenüber gilt für den Bereich des EU-Auslandes:

Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die von einem Arzt in einem EU-Mitgliedstaat auf der Grundlage des Art. 18 VO Nr. 574/72 ausgestellt ist, kann vom Arbeitgeber nach der Rechtsprechung des EuGH nur dann erschüttert werden, wenn er den Nachweis erbringen kann, dass sich der Arbeitnehmer missbräuchlich oder betrügerisch arbeitsunfähig gemeldet hat, ohne arbeitsunfähig zu sein. Die Anwendung der Grundsätze über die Erschütterung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen hat der EuGH dagegen ausdrücklich verneint, denn dies sei mit den Zielen von Art. 18 VO Nr. 574/72 nicht vereinbar: Der Arbeitnehmer könne dadurch in Beweisschwierigkeiten kommen, welche die Gemeinschaftsregelung gerade zu vermeiden sucht. Es reicht demnach - anders als bei im Inland ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen - nicht aus, dass der Arbeitgeber Zweifelsumstände nachweist, die nur zu „ernsthaften Zweifeln“ an der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit Anlass geben. Vielmehr trägt der Arbeitgeber die Beweislast dafür, dass der Arbeitnehmer nicht arbeitsunfähig erkrankt war.

Paradoxerweise führt die Rechtsprechung des EuGH dazu, dass einer im EU-Ausland ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ein höherer Beweiswert zukommt, als einer im Inland ausgestellten Bescheinigung.  

Ob hier eine unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung erforderliche Anpassung und entsprechende Übertragung der für den Bereich der EU geltenden Maßstäbe erfolgen wird, bleibt abzuwarten.

Aktuelle Rechtsprechung:

Das BAG hat jüngst die Reihe der Ausnahmefälle um einen weiteren Lebenssachverhalt erweitert:

Kündigt ein Arbeitnehmer sein Arbeitsverhältnis und wird er am Tag der Kündigung arbeitsunfähig krankgeschrieben, kann dies den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung insbesondere dann erschüttern, wenn die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfasst (BAG, Urteil vom 08.09.2021 – 5 AZR 149/21).

Sachverhalt war folgender: Die klagende Arbeitnehmerin war bei der Beklagten seit Ende August 2018 als kaufmännische Angestellte beschäftigt. Am 08.02.2019 kündigte sie das Arbeitsverhältnis zum 22.02.2019 und legte der Arbeitgeberin eine auf den 08.02.2019 datierte, als Erstbescheinigung gekennzeichnete Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor, die ihr die Arbeitsunfähigkeit bis zum Ablauf der Kündigungsfrist bescheinigte. Die Beklagte zweifelte die Arbeitsunfähigkeit an und verweigerte die Entgeltfortzahlung. Der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei erschüttert, weil diese genau die Restlaufzeit des Arbeitsverhältnisses nach der Eigenkündigung der Klägerin abdecke. Erst in der Revision hatte die beklagte Arbeitgeberin Erfolg. Anders als die Vorinstanzen sah das BAG die ernsthaften Zweifel an der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit für begründet und die Beweiskraft der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung als erschüttert an.

Die Entscheidung ist sowohl für Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer interessant: Das BAG hält zwar weiterhin am hohem Beweiswert einer formal ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung fest, verdeutlicht aber, dass dieser nicht unumstößlich ist.

Zu Fragen im Zusammenhang mit Kündigungen oder Entgeltfortzahlung berate ich Sie gerne.


* Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen und personenbezogenen Hauptwörtern in diesem Beitrag die männliche Form verwendet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für alle Geschlechter. Die verkürzte Sprachform hat nur redaktionelle Gründe und beinhaltet keine Wertung.



Rechtstipp aus den Rechtsgebieten

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