Geburtsschadensrecht – Behandlungsfehler nach der Geburt

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Teil 2: der nachgeburtliche Behandlungsfehler und die verschiedenen Gutachtenverfahren

Der zweite Artikel der Reihe betrifft den Behandlungsfehler nach der Geburt, der organisatorischer Natur sein kann oder auf das Unterbleiben von notwendigen Maßnahmen bei speziellen Situationen (Frühgeburt, Zwillingsgeburt u. a.). 

Ferner werden die verschiedenen Möglichkeiten der Begutachtung besprochen, welche Vor- und Nachteile diese hat und wann eine solche überflüssig sein kann. Die prozessualen Möglichkeiten werden im Teil 4 besprochen.

1. Fehler in der nachgeburtlichen Behandlung

Bei Frühgeburten, Zwillingsgeburten oder ersichtlich unterversorgten Kindern sind besondere Maßnahmen notwendig, deren Nichtbeachtung zu erheblichen gesundheitlichen Folgen beim Kind führen kann.

a) Organisatorische Fehler

Jedes Krankenhaus mit Wöchnerinnenstation muss die Grundvoraussetzungen zur Überwachung der neugeborenen Kinder bieten. In solchen Krankenhäusern ist daher die Anwesenheit einer Kinderkrankenschwester erforderlich, die vorhandene Geräte bedienen können muss, auch wenn deren Einsatz selten erforderlich ist. 

Jedenfalls ist es nie ausreichend, wenn nur eine Krankenschwester die gesamte Station einschließlich des Kinderzimmers überwacht. Die für das Säuglingszimmer zuständige Schwester muss also wissen, wie ein Oxymeter zu bedienen ist und welche Grenzen einzuhalten sind. Versäumt sie eine regelmäßige Dokumentation, ist davon auszugehen, dass die notwendigen Überwachungsmaßnahmen nicht stattgefunden haben.

b) Frühgeburt

Da sich Frühgeburten oft ankündigen, bleibt in der Regel Zeit für eine Verlegung in ein perinatales Versorgungszentrum. Eine absolute Verlegungsindikation in ein Perinatalzentrum besteht bei einem Gestationsalter von weniger als die 32. Schwangerschaftswoche (SSW) bzw. bei einer Zwillingsgeburt unter der 33. SSW oder einem Geburtsgewicht von weniger als 1500 g unabhängig von der Schwangerschaftswoche.

Die Indikationen zur Verlegung von Früh- und Reifgeborenen in Krankenhäuser der adäquaten Versorgungsstufe sind in der AWMF-Leitlinie Nr. 024/002 (Stand 04/2013) ausführlich beschrieben und von jedermann abrufbar. Link:

http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/024-002l_S1_Verlegung_von_Fr %C3 %BCh-_und_Reifgeborenen_in_Krankenh %C3 %A4user_der_ad %C3 %A4quaten_Versorgungsstufe_2013-04.pdf

c) Zwillinge

Wenn es bei einem Zwilling zu einer intrauterinen Hypotrophie (Wachstumsverzögerung) gekommen ist (OLG Koblenz, Urteil vom 05.07.2004, Gz. 12 U 572/97) sind regelmäßige Blutzuckerkontrollen des Neugeborenen zwingend erforderlich, um eine Hypoglykämie rechtzeitig zu diagnostizieren und zu behandeln. Neugeborene dieser Gefährdungsstufe sind daher grundsätzlich umgehend nach der Geburt zur weiteren und fachgerechten neonatologischen Betreuung in eine pädiatrische Abteilung zu verlegen. 

Hält eine Entbindungsstation die notwendige Weiterversorgung nicht bereit und wird auch die in die Kinderklinik gebotene Verlegung nicht veranlasst, liegt ein schweres Organisationsversäumnis vor.

2. Feststellung des Arztfehlers

Eine Besonderheit im Geburtsschadensrecht ist, dass es viele typische Fälle und ähnliche Fehler gibt, die in der Rechtsprechung bereits eindeutig entschieden worden sind, sodass eine Bewertung durch den Fachanwalt und Spezialisten gut vorgenommen werden kann. 

Allerdings hat auch jeder Fall seine Besonderheiten und Abweichungen vom Typischen, sodass eine endgültige Vorhersage der Erfolgsaussichten nicht möglich ist. Eine Bewertung durch einen Sachverständigen kann die letzten Zweifel ausräumen oder eine erweiterte Entscheidungshilfe für ein weiteres Vorgehen sein. 

Ein Gutachten kann je nach Fallgestaltung sehr empfehlenswert aber auch überflüssig sein. Dies sollte eingehend besprochen werden. Denn die vorgerichtliche Gutachtenerstellung kann sehr problematisch sein und auch zu Nachteilen führen. Für den Fall, dass ein Arztfehler nicht schon aus den Unterlagen deutlich hervorgeht, gibt es mehrere Verfahren einen solchen feststellen zu lassen.

a) Das private Sachverständigengutachten

Der große Nachteil bei einem Privatgutachten ist, dass dieses viel Geld kostet. Üblich sind Kosten zwischen 1.500,00 Euro und 4.000,00 Euro. Bei besonderer Fallgestaltung auch noch darüber hinaus. 

Der Vorteil ist, dass der Sachverständige eher neutral bis gewogen ist und sich nicht scheut, die möglichen Fehler klar anzusprechen und eine Bewertung des Verschuldens beim Geburtshelfer vorzunehmen. Ferner hat man die Möglichkeit, auf die zeitliche Erstellung des Gutachtens einzuwirken, sodass innerhalb kurzer Zeit ein Gutachten vorliegen kann. 

Der große Nachteil ist, dass das Gutachten später vor Gericht alleine nicht gewertet wird. Die Gegenseite wird immer darauf hinweisen, dass es sich um ein Parteigutachten handelt und nicht mehr ist als Parteivortrag – also so, als ob die Eltern es selbst verfasst hätten. Es handelt sich zwar um einen qualifizierten Parteivortrag, aber vor Gericht ist es alleine nicht durchschlagend. 

Dies bedeutet, dass daneben ein weiteres Gerichtsgutachten erstellt wird. Bei unterschiedlichem Ergebnis zum Parteigutachten ist der gerichtliche Sachverständige verpflichtet darzustellen, warum das Privatgutachten falsch ist.

b) Gutachten über die gesetzliche Krankenkasse

Die gesetzlichen Krankenkassen bieten bei Verdacht auf einen Arztfehler an, ein Gutachten über den „Medizinischen Dienst der Krankenkasse“ (MdK) erstellen zu lassen. Der Vorteil ist, dass diese Gutachten kostenlos sind. Der Nachteil ist, dass diese in der Regel nicht so ausführlich sind und nicht immer auf vollständige Unterlagen beruhen. 

Daher halten sie einem Gerichtsgutachten nicht immer Stand. Allerdings bieten sie eine erste Einschätzung, auf die man bauen kann. Ist das Gutachten negativ, muss die Gegenseite keine Kenntnis davon erlangen.

Manche privaten Krankenkassen bieten mittlerweile ebenfalls die kostenfreie Erstellung von medizinischen Fachgutachten an. Hier kann sich eine Anfrage lohnen.

c) Gutachten über die Ärztekammer

Die Ärztekammern bieten über ihre Schlichtungsstellen ebenfalls an, ein kostenloses Gutachten zu erstellen, wenn die Behandlerseite zustimmt und kein Strafverfahren eingeleitet worden ist. Diese Gutachten sind in der Regel fundierter als beim MdK. Zudem hemmen sie die Verjährung. 

Allerdings fallen diese auf dem Gebiet des Geburtsschadensrechts eher negativ für den Patienten aus. Beachtlich ist, dass die Ärztekammer u. a. die Aufgabe hat, ihre Mitglieder zu schützen. Da es in vielen Fällen der Geburtsschäden um Summen in Millionenhöhe geht, neigen die dortigen Sachverständigen eher dazu, ihre Kollegen in ein positives Licht zu rücken und den Arztfehler nicht als solchen zu bezeichnen oder einen groben Behandlungsfehler als einfachen Fehler darzustellen.

Diese Gutachten sind also mit Vorsicht zu genießen und entsprechend kritisch zu würdigen. Ein großer Nachteil ist es, wenn diese Gutachten negativ für die Eltern ausfallen, es aber Bedenken an der Richtigkeit des Gutachtens gibt. Das bedeutet einen viel größeren Begründungsaufwand für den Rechtsanwalt mit meist erhöhten Anwaltsgebühren. 

Bei vermögenslosen Mandanten, die dann klagen wollen, besteht das Risiko dass das Gericht die Prozesskostenhilfe ablehnt, weil ein negatives Gutachten dazu führen kann, dass die Erfolgsaussichten eines Prozesses als zu gering eingeschätzt werden. 

Zudem benötigt die Gutachterstelle im Durchschnitt über ein Jahr für die Erstellung des Gutachtens. Dann kann es geschehen, dass man nach einer langen Wartezeit ein negatives Gutachten mit einem eventuell falschen Ergebnis hat, das zu höheren Kosten führt und sogar zur Unmöglichkeit einen Prozess durchzuführen.

Wenn allerdings das Gutachten positiv ausfällt, kann dies auch positive Konsequenzen für den weiteren Prozess haben. Oft bieten dann die Versicherungen eine Abfindungszahlung im Vergleichswege an. Wenn es sich, wie bei Geburtsschäden oft der Fall ist, um sehr hohe Schmerzensgeld- und Schadensersatzbeträge handelt, sind die Vergleichsangebote der Versicherungen aber meist nicht mal im Bereich von 10 % der geltend gemachten Ansprüche. 

Dann ist ebenfalls die Klage anzuraten, wobei der gerichtliche Sachverständige sich mit dem positiven Gutachten auseinandersetzen muss und es nur in wenigen Fällen zu einer abweichenden negativen Einschätzung kommen sollte. Prozesskostenhilfe würde bei einem positiven Gutachten für Bedürftige immer gewährt werden.

d) Gutachten über die Staatsanwaltschaft

Wenn eine Strafanzeige gegen den Geburtshelfer gestellt wird, muss die Staatsanwaltschaft grundsätzlich ein medizinisches Fachgutachten erstellen. Der Vorteil ist, dass es kostenlos ist und in der Regel sehr fundiert. Der große Nachteil ist, dass es im Strafrecht viel strenge Anforderungen bezüglich der Beweislage für die Tatsachen und die Kausalität gibt, sodass die Gutachten im Vergleich zum Zivilprozess eher negativ ausfallen. Liegt ein solches negatives Gutachten vor, ist es schwer, im Zivilprozess damit zu einem positiven Ergebnis zu gelangen.

e) Gutachten im Zivilverfahren

Der schnellste und kostengünstigste Weg ist, ohne ein vorgerichtliches Gutachten die Klage zu erheben. Dies erfordert einen hoch kompetenten Anwalt, der sich in der medizinischen Fachmaterie auskennt oder bereit ist, sich einzuarbeiten. Denn der Behandlungsfehler sollte identifiziert und mindestens umrissen werden. 

Noch besser wäre es, wenn die Rechtsprechung auf diesem Gebiet bekannt ist und auf vergleichbare Fälle schon in der Klageschrift hingewiesen wird. Die Erstellung eines Gutachtens über den MdK kann immer zusätzlich erwogen werden, je nachdem wie klar bzw. zweifelhaft der Arztfehler ist. 

Ohne ein vorgerichtliches Gutachten aber mit fundierter Darstellung der vermuteten Arztfehler wird im Rahmen des Gerichtsverfahrens ein Fachgutachten erstellt, dessen Kosten der Kläger vorstrecken muss. Aber im Gegensatz zu einem vorgerichtlichen Privatgutachten werden diese Kosten bei Vorhandensein einer Rechtsschutzversicherung, von dieser bezahlt. 

Wurde PKH gewährt, muss der Kläger die Kosten des Sachverständigen auch nicht tragen. Wenn dann das Gutachten negativ ausfällt, besteht immer noch die Möglichkeit ein Privatgutachten auf eigene Kosten erstellen zu lassen und dem Gerichtsgutachten entgegenzustellen. 

Führt das dann dazu, dass das Gericht dem positiven Privatgutachten folgt, hat die Gegenseite auch die Kosten des Privatgutachtens zu übernehmen. Das gilt grundsätzlich nicht für die vorgerichtlich erstellten Privatgutachten.

Das Privatgutachten kann auch nach negativem Urteil erst für die Berufung erstellt werden, sodass diese einfacher begründet werden kann. Im besten Fall tauchen neue Tatsachen auf oder werden in ein neues Licht gerückt, sodass die Erfolgsaussichten sich wesentlich erhöhen.

Welche rechtlichen Möglichkeiten bestehen, wenn ein Fehler festgestellt wurde, erfahren Sie im nächsten dritten Teil.

Zum Autor

Rechtsanwalt Christian Lattorf ist seit vielen Jahren auf dem Gebiet des Geburtsschadensrechts und noch länger auf dem Gebiet des Arzthaftungsrechts auf der Patientenseite tätig. Die Kanzlei ist deutschlandweit für medizingeschädigte Patienten tätig.

Rechtsanwalt Christian Lattorf

Spezialist und Fachanwalt für Medizinrecht



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