Kündigung in Probezeit? So einfach gehts nicht!

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Probezeitkündigung immer wirksam? Nichts da!
EuGH Urteil vom 10.02.2022  C-485/20 HR Rail


Der EuGH stellt erhöhte Anforderungen an die Kündigung von Menschen mit Behinderung innerhalb der  Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG i.V.m. § 173 Abs. 1 Satz 1 SGB IX
Neben dem allgemeinen Kündigungsschutz nach § 1 Abs. 1 Kündigungsschutzgesetz greifen nach deutschem Recht für schwerbehinderte Beschäftigte gemäß § 173 Abs. 1 S. 1 SGB IX die §§ 168 ff. SGB IX. Demnach ist eine Zustimmung des Integrationsamts bei Kündigungen von Menschen mit Schwerbehinderung erforderlich. Beide Regelungen finden jedoch erst nach sechs Monaten ununterbrochener Beschäftigung Anwendung.


1. Unter welchen Voraussetzungen kann eine Kündigung während der Wartezeit unwirksam sein?


Während der Wartezeit muss eine Kündigung in der Regel zunächst bestimmte Formalien wahren, u.a. muss die Schriftform gewahrt sein (§ 623 BGB), die Kündigung muss vom Berechtigten unterschrieben sein und der Betriebsrat ordnungsgemäß angehört werden, § 102 BetrVG. Darüber hinaus darf eine Kündigung nicht willkürlich erfolgen, sie darf nicht sittenwidrig sein (§ 138 BGB), sie darf nicht maßregelnd sein (§ 612a BGB) und auch eine Diskriminierung nach dem allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz würde zur Unwirksamkeit einer solchen Kündigung führen.


In der arbeitsgerichtlichen Praxis hat sich allerdings ein minimaler Begründungsaufwand bei Kündigungen während der Wartezeit etabliert. Mit einfachen und knappen Begründungen geben sich die Arbeitsgerichte meist schon zufrieden. Dem könnte jetzt eine neue Entscheidung des EuGH, jedenfalls bei Menschen mit einer Behinderung, entgegenstehen.


2. Was ändert sich ggf. durch die o.g. Entscheidung des EuGH?


Auf die Vorlage eines belgischen Gerichts hin, hat der EuGH die Frage beantwortet, ob Unternehmen nicht auch innerhalb der ersten sechs Monate verpflichtet seien, bei Mitarbeitenden mit Schwerbehinderung zu prüfen, ob diese nicht zunächst an anderer Stelle im Unternehmen beschäftigt werden könnten.


Sachverhalt


Dem lag der Sachverhalt eines als Gleisarbeiter Beschäftigten bei der belgischen HR Rail SA zugrunde, die die einzige Arbeitgeberin der Mitarbeitenden der belgischen Eisenbahn ist. Dieser hatte innerhalb der ersten sechs Monate seiner Beschäftigung eine Herzerkrankung diagnostiziert bekommen, die das Einsetzen eines Herzschrittmachers nötig machte. Ihm wurde aus diesem Grund eine Schwerbehinderung attestiert. Als Gleisarbeiter war er jedoch regelmäßig elektromagnetischen Feldern ausgesetzt, die an Gleisanlagen vorkommen und den Herzschrittmacher hätten beeinträchtigen können. Kurz wurde er als Lagerist eingesetzt und wenig danach – innerhalb der Probezeit – entlassen. Dazu führte die Arbeitgeberin aus, dass in der Probezeit keine Notwendigkeit bestünde einen anderen Arbeitsplatz anzubieten.


Der Arbeitnehmer klagte mit der Begründung, dass er wegen seiner Behinderung entlassen wurde und darin eine Diskriminierung läge. Dies widerspreche der europäischen Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie (Richtlinie 2000/78/EG), die die Diskriminierung von Menschen mit Schwerbehinderung im Arbeitsverhältnis verbietet. Art. 5 der Richtlinie sieht vor, dass der Arbeitgeber „angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderungen“ treffen muss. Nach Auffassung des Arbeitnehmers gehört dazu auch die Weiterbeschäftigung auf einem anderen Arbeitsplatz.


Das belgische Gericht legte folgende Frage im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 dem EuGH vor. Inwieweit sei Art. 5 der Richtlinie 2000/78 dahin auszulegen, dass der Begriff „angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung“ im Sinne dieses Artikels impliziert, dass ein Arbeitnehmer – und zwar auch derjenige, der nach seiner Einstellung eine Probezeit absolviert –, der aufgrund seiner Behinderung für ungeeignet erklärt wurde, die wesentlichen Funktionen seiner bisherigen Stelle zu erfüllen, auf einer anderen Stelle einzusetzen ist, für die er die notwendige Kompetenz, Fähigkeit und Verfügbarkeit aufweist.“


Rechtliche Würdigung


Der EuGH urteilte daraufhin, dass die genannte Richtlinie in ihrem Anwendungsbereich so weit sei, dass sie auch in der Probezeit Anwendung findet.
„Der Arbeitgeber hat also die geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um dem Menschen mit Behinderung den Zugang zur Beschäftigung, die Ausübung eines Berufes, den beruflichen Aufstieg und die Teilnahme an Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen würden ihn unverhältnismäßig belasten.“


Von den „geeigneten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen“ sei die Versetzung auf einen anderen Arbeitsplatz umfasst.
Bei der Prüfung, ob eine unverhältnismäßige Belastung vorliegt, ist insbesondere der „mit ihnen verbundene finanzielle Aufwand sowie die Größe, die finanziellen Ressourcen und der Gesamtumsatz der Organisation oder des Unternehmens und die Verfügbarkeit von öffentlichen Mitteln oder anderen Unterstützungsmöglichkeiten“ zu berücksichtigen.
Jedenfalls sei das Vorhandensein einer freien Stelle, die der betreffende Arbeitnehmer einnehmen könne, Voraussetzung, um dort eine Person mit Behinderung zu beschäftigen.
Damit hat der EuGH den allgemeinen Kündigungsschutz, sowie den Sonderkündigungsschutz von Menschen mit Behinderungen, wie er in Deutschland gilt, erweitert um ein scharfes europarechtliches Schwert. Arbeitgeber*innen müssen zukünftig auch innerhalb der Wartezeit prüfen, ob nicht doch mildere Mittel als eine Kündigung in Betracht zu ziehen sind und dabei erhöhte Maßstäbe berücksichtigen.


Tipp für die Praxis:
Viele Arbeitnehmer*innen und Betriebsräte geben bei Kündigungen in der Wartezeit zu schnell auf. Bereits bei den Formalien werden häufig Fehler gemacht. Die Entscheidung des EuGH hat gezeigt, dass auch in der Wartezeit materiell-rechtliche Anforderungen an die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses zu stellen sind. Im Zweifelsfalle sollte ein Rechtsanwalt*eine Rechtsanwältin kontaktiert werden. Ich biete bei Kündigungen eine schnelle und kostenfreie Ersteinschätzung an. Kontaktieren Sie mich gerne zu diesem Thema!


Foto(s): 688517_original_R_B_by_Tim Reckmann_pixelio.de

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