Kürzung des Verdienstausfallschadens

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Die Kürzung des Erwerbsschadens wegen unterlassener stationärer psychiatrischer Behandlung

von Heiko Effelsberg, LL.M.

09.02.2022

Erleidet der Geschädigte bei dem schädigenden Ereignis – sei es eine fehlerhafte ärztliche Behandlung, ein (Verkehrs-)Unfall oder eine sonstige Körperverletzung – einen lang anhaltenden oder dauerhaften Schaden, stellt häufig der Anspruch auf Ersatz des Erwerbsschadens eine der größten Schadenspositionen dar. Insofern verwundert es nicht, dass hierum häufig und heftig gestritten wird, denn die Berechnung selbst ist rechtlich komplex und im Ergebnis unsicher. Schädiger bzw. die hinter dem Schädiger stehenden Versicherer wenden regelmäßig ein, dass der Geschädigte sich einer weitergehenden Behandlung oder Operation unterziehen könnte und dass dadurch die Arbeitsfähigkeit wieder hergestellt würde, so dass ein Schaden entfällt. Häufig wird der Einwand auch erhoben, wenn der Geschädigte im Anschluss an das schädigende Ereignis eine psychische Reaktion – häufig in Form einer Depression – zeigt, im weiteren Verlauf aber lediglich ambulante Behandlungen durchgeführt werden und auf medikamentöse Therapien oder stationäre Aufenthalte (noch) verzichtet wird – dies häufig auch auf ausdrückliches Anraten des Behandlers. Rechtlich stellt sich dann die Frage, wann ein Geschädigter überhaupt verpflichtet ist, sich einer weitergehenden Behandlung, die mit mehr oder weniger schweren Eingriffen verbunden ist, zu unterziehen, und wenn er es ist, welche Folgen es für den Schadenersatzanspruch hat, wenn er die Behandlungen unterlässt. 

Der Bundesgerichtshof hatte nunmehr die Möglichkeit, sich im Rahmen eines Urteils mit diesen Fragen zu befassen (BGH, Urteil vom 21.09.2021, VI ZR 91/19, abgedruckt in ZMGR 2021, 361).

Sachverhalt

Der Kläger des dortigen Verfahrens nahm die Beklagte als Kfz-Haftpflichtversicherer nach einem Verkehrsunfall auf Ersatz des Verdienstausfallschadens in Anspruch. Der Kläger wurde 2004 bei einem Verkehrsunfall durch einen bei der Beklagten versicherten PKW erheblich am rechten Bein mit mehreren Brüchen und Prellungen verletzt. Unabhängig von dem Unfall litt der Kläger bereits zuvor an Muskeldystrophie, Adipositas und Diabetes Mellitus Typ 2, was ohne die weiteren Beeinträchtigungen durch den Unfall bereits einen Grad der Behinderung von 60 begründete.

Die stationäre Behandlung nach dem Unfall dauerte ca. 4 Wochen; im Anschluss daran kam es zu weiteren gesundheitlichen Komplikationen und zu depressiven Störungen.

Ursprünglich war der Kläger beim Land Schleswig-Holstein beschäftigt. Seine Tätigkeit als Verwaltungsfachangestellter nahm er nach dem Unfall im Juni 2005 wieder auf.

Der Kläger entwickelte jedoch im weiteren Verlauf psychosomatische Störungen, weshalb er ab Anfang 2007 arbeitsunfähig erkrankte. Ihm wurde dann beginnend ab Oktober 2007 eine befristete Rente wegen Erwerbsminderung bis zum 31.12.2009 gewährt, die später bis zum 31.12.2012 verlängert wurde. Auf Antrag hin wurde ihm bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze im Jahr 2036 eine unbefristete Rente wegen voller Erwerbsminderung  bewilligt und er wurde zum Ende 2012 aus dem Landesdienst entlassen.

Der Kläger behauptete, die zur Erwerbsunfähigkeit führende depressive Störung sei Folge des Unfalls. Er verlangte für den Zeitraum von Februar 2007 bis Oktober 2016 einen Ersatz des Verdienstausfalls in Höhe von ca. 130.000 EUR sowie die Feststellung, dass die Beklagte die Differenz der Einkünfte in Höhe von ca. 1.400 EUR monatlich bis zum Jahre 2036 zu erstatten habe.

Verfahrenslauf

Das Landgericht hat der Klage im Wesentlichen stattgegeben, das Oberlandesgericht hat das Urteil auf Berufung der Beklagten in Höhe von 108.000 EUR bestätigt und dem Kläger für den Zeitraum ab Oktober 2016 lediglich 25% der Differenz zwischen fiktivem und tatsächlichen Einkommen zugesprochen. Die Kürzungen rührten daher, dass das Oberlandesgericht die Meinung vertrat, dass der Kläger ab Oktober 2014 eine Kürzung von 50% seines Verdienstausfallschadens und ab Oktober 2015 eine Kürzung von 75% zu akzeptieren habe, denn insofern liege ein Mitverschulden des Klägers vor, nämlich ein Verstoß gegen die dem Geschädigten nach § 254 Abs. 2 Satz 1 BGB obliegenden Schadenminderungspflicht. Das Oberlandesgericht stützte dies darauf, dass das eingeholte ärztliche Gutachten festgestellt hat, dass der Kläger sich seit 2013 keiner Behandlung mehr unterzogen habe, um die depressive Störung zu behandeln und zu heilen. Ausweislich des ärztlichen Gutachtens bestünde aber die Aussicht, dass bei adäquater Behandlung eine Steigerung des Leistungsniveaus erreicht werden könnte, mit dem der Kläger zu 50% und später zu 75% in leichten oder mittelschweren Jobs ohne ausdrückliche psychische Belastung hätte arbeiten können.

Auf die Revision des Klägers wurde das Urteil des Oberlandesgerichts mit der oben genannten Begründung aufgehoben und zur erneuten Verhandlung zurückverwiesen.

Begründung

Der BGH begründete seine Entscheidung wie folgt:

Richtig sei zwar der Ansatz, dass ein Verstoß gegen die Schadenminderungspflicht zu einer Anspruchskürzung führen kann, jedoch verkenne das Oberlandesgericht die Grundsätze der Berücksichtigung der erzielbaren, aber unterlassenen Einkünfte.

So ist der Geschädigte im Verhältnis zum Schädiger nach den Grundsätzen der Schadenminderungspflicht dazu angehalten, in den Grenzen des Zumutbaren seine verbleibende Arbeitskraft so nutzbringend wie möglich einzusetzen (Rn. 11). Dem kann die Obliegenheit vorangehen, seine Arbeitskraft durch zumutbare Maßnahmen wiederherzustellen oder jedenfalls zu verbessern (Rn. 12). Bei unterlassenen Behandlungen oder Therapien müssen die Behandlungen selbst dem Geschädigten zumutbar sein. Nach der Rechtsprechung sind dabei Operationen nur dann zumutbar, wenn sie einfach und gefahrlos und nicht mit besonderen Schmerzen verbunden sind und sich die sichere Aussicht auf Heilung oder wesentliche Verbesserung bietet (Rn. 12). Der BGH überträgt diesen Maßstab nun auf stationäre psychiatrische oder mit belastenden Nebenwirkungen behaftete medikamentöse Behandlungen und verlangt, dass sie eine sichere Aussicht auf eine wesentliche Besserung mit sich bringen. Andernfalls sind sie für den Geschädigten nicht mehr zumutbar und er muss sie nicht ergreifen.

Im Rahmen des Verdienstausfallschadens muss die unterlassene Behandlung dabei nicht nur die Aussicht auf eine wesentliche Besserung des allgemeinen Gesundheitszustands beinhalten, sondern die Therapie muss voraussichtlich auch zur Verbesserung der Arbeitskraft führen.

Eine weitere Voraussetzung ist nach dem BGH, dass dem Geschädigten die Erbringung seiner Arbeitskraft in einem bestimmten Beruf zugemutet werden kann und dass ihm nach einer Prognose mit entsprechenden Anstrengungen am Arbeitsmarkt gelingen wird, eine Anstellung zu erhalten. Danach kann die Pflicht, sich um eine Arbeitsstelle zu bemühen, dann entfallen, wenn der Geschädigte wegen seiner unfallbedingten Beeinträchtigungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht vermittelbar ist und deshalb Bemühungen um eine Arbeitsstelle von vorneherein aussichtslos sind.

Unterstellt man, dass der Geschädigte nach den vorstehenden Grundsätzen verpflichtet gewesen wäre, sich einer Behandlung zu unterziehen und sich (bei wiedergewonnener Arbeitskraft) um eine Anstellung zu bemühen, dann können nach der ständigen Rechtsprechung des BGH die fiktiven Einkünfte in Abzug gebracht werden. Die von dem Oberlandesgericht angewandte quotenmäßige Anspruchskürzung kommt dagegen nicht in Betracht.

Infolgedessen war das Urteil aufzuheben und zur Entscheidung zurückzuverweisen. Dabei hat der BGH auch davon Gebrauch gemacht, einige im Revisionsverfahren erhobenen Einwende zu bewerten und seine Rechtsansicht dem Berufungsgericht mit auf den Weg zu geben.

Fazit

Die Entscheidung des BGH zeigt im Wesentlichen eines: der Erwerbsschaden nach einer Körperverletzung ist rechtlich kompliziert und schwer zu prognostizieren, insbesondere, weil der Anspruch an vielen Kausalitätserfordernissen hängt, die wiederum von den Ergebnissen der Gutachten abhängen. Außerdem kann selbst ein Obergericht durch Aussagen in einem Gutachten „auf den falschen Weg“ gelangen.

Grundsätzlich wird sich diese Problematik aber nur im Einzelfall lösen lassen, weshalb es für beide Parteien darauf ankommt, sich durch qualifizierte Prozessvertreter im Verfahren vertreten zu lassen.

Vorliegend war Anknüpfungspunkt für den Rechtsstreit, dass im Rahmen der außergerichtlichen Regulierung offenbar schon streitig war, ob die Depression des Geschädigten kausal durch den Unfall verursacht wurde und ob sie zur Erwerbsunfähigkeit geführt hat. Denn alternativ hat der Versicherer sich auf eine Begehrensneurose des Klägers und darauf gestützt, dass der Kläger aufgrund seiner Vorerkrankungen ohnehin vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden wäre. Nachdem diese Behauptungen sich nicht beweisen ließen, musste über die Kürzung der Schadenersatzansprüche wegen Mitverschuldens entschieden werden. In der Praxis liegt dieser Vorwurf immer in der Luft, wenn ab einem bestimmten Punkt eine Behandlung des Geschädigten nicht mehr dokumentiert wird, obwohl noch kein Endpunkt der Behandlung festgestellt wird. Dies kommt bei psychischen Erkrankungen erstaunlich häufig vor.

Ob und wenn ja wann diese unterlassene Weiterbehandlung dann zur Nachteilen für den Geschädigten führt, war Hauptgegenstand der Erörterungen des BGH. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass dem Schädiger es nicht zu Gute kommen kann, wenn die Verweigerung der Weiterbehandlung sich auf die psychische Störung zurückführen lässt, die gerade von dem Unfall hervorgerufen wurde.

Darüber hinaus sind die vom BGH aufgestellten Voraussetzungen über das medizinische hinaus insoweit von Bedeutung, dass die Obliegenheit zur Behandlung auch davon abhängig ist, ob der Geschädigte nach (erfolgreicher) Behandlung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt Aussichten auf eine erfolgreiche Anstellung und Verwertung seiner Arbeitskraft hat. Das Gericht muss damit nicht nur die medizinischen Fragen durch einen Sachverständigen klären lassen, sondern im Anschluss daran eine zu begründende Prognose über die Aussichten am Arbeitsmarkt abgeben. In der Regel dürfte also auch hierfür ein Sachverständigengutachten notwendig werden.

Zum Autor

Rechtsanwalt Effelsberg ist Inhaber der Kanzlei effelsberg.legal mit Büros in Düsseldorf und Essen. Er ist Absolvent des Postgraduiertenstudiengangs Versicherungsrecht der Westfälischen-Wilhelms-Universität in Münster 2004/2005 und seit 2009 Fachanwalt für Versicherungsrecht. Seit 2005 ist er u.a im Bereich von Personenschäden im Zusammenhang mit Arzthaftung und Verkehrsunfällen tätig.  

 


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