Nach welchen Kriterien trifft der Arbeitgeber seine Sozialauswahl?

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Nach den im Gesetz abschließend aufgezählten Gesichtspunkten ist dann unter den vergleichbaren Arbeitnehmern derjenige zu ermitteln, den eine Kündigung am wenigsten hart treffen würde.

Diesem „sozial stärksten“ Arbeitnehmer ist dann zu kündigen.

Folgende ausschließliche  Kriterien (sog. Sozialkriterien) sind vom Arbeitgeber zu berücksichtigen:

  1. Dauer der Betriebszugehörigkeit
  2. Lebensalter
  3. Unterhaltspflichten
  4. Schwerbehinderung

In Betrieben, in denen ein Betriebsrat gewählt ist und die Betriebsparteien sog. Auswahlrichtlinien (vgl. § 95 des Betriebsverfassungsgesetzes) vereinbart haben, sind dabei die Regelungen solcher Richtlinien zu berücksichtigen.

In diesem Fall kann im Kündigungsschutzprozess die Sozialauswahl nur noch auf „grobe Fehlerhaftigkeit“ überprüft werden.

Grob fehlerhaft ist die soziale Auswahl erst dann, wenn die gesetzlichen Auswahlkriterien überhaupt nicht zu Grunde gelegt wurden oder die einzelnen Gesichtspunkte in einem auffälligen Missverhältnis zueinander gewichtet wurden.

Arbeitnehmer sollten besonders darauf achten, dass der Arbeitgeber bei der Sozialauswahl nur die Sozialdaten berücksichtigen muss, deren Kenntnis vorausgesetzt wird. Er darf sich auf die Eintragungen in der Lohnsteuerkarte verlassen, solange ihm nicht aus anderen Gründen bekannt ist oder bekannt sein müsste, dass diese unzutreffend sind. Der Arbeitgeber ist nicht verpflichtet, im Vorfeld einer betriebsbedingten Kündigung Erkundigungen einzuholen, um sich ein möglichst genaues Bild von Ihren Sozialdaten zu verschaffen.

Tipp: Arbeitnehmer sollten deshalb rechtzeitig dafür Sorge tragen, dass die sonstige soziale Lage oder nachteilige Veränderungen – Heirat, Geburt von Kindern, Schwerbehinderteneigenschaft, schlechter Gesundheitszustand nach einem Arbeitsunfall, Arbeitslosigkeit unterhaltsberechtigter Familienangehöriger, schlechte Vermittelbarkeit usw. – dem Arbeitgeber und dem Betriebsrat auch – ggf. schriftlich – bekannt werden.

1. Dauer der Betriebszugehörigkeit

Bei dem Kriterium „Dauer der Betriebszugehörigkeit“ sollten Arbeitnehmer unbedingt aufpassen, dass es trotz der Formulierung „Betriebszugehörigkeit“ nicht auf die Zugehörigkeit im Betrieb, sondern auf die im Unternehmen ankommt. Maßgeblich ist herbei der ununterbrochene rechtliche Bestand des Arbeitsverhältnisses, wie die Juristen sagen.

Sollten Arbeitnehmer beim Arbeitgeber früher tätig gewesen sein und nach längerer Unterbrechung von mehreren Monaten dort wieder mit einer Arbeit anfangen, empfiehlt sich eine eine Anrechnungsvereinbarung etwa folgenden Inhalts mit dem Arbeitgeber zu schließen:

„Die Arbeitsvertragsparteien sind sich darüber einig, dass die Beschäftigungszeit im Unternehmen vom XX bis XX auf das neu begründete Arbeitsverhältnis angerechnet wird.“

Aus Beweisgründen sollten Arbeitnehmer diese Vereinbarung unbedingt schriftlich schließen. Am Einfachsten ist es, wenn eine solche Klausel irgendwo in den neuen Arbeitsvertrag aufgenommen wird.

Gelegentlich finden sich sogar in Tarifverträgen ausdrückliche Vorschriften, die eine Anrechnung von Zeiten auch bei einem anderen Arbeitgeber derselben Branche (Bewachungsgewerbe) vorsehen.

Werden Arbeitszeiten auf diesem Weg angerechnet, führt dies dazu, dass von einer längeren Beschäftigungszeit auszugehen ist. Dies kann Arbeitnehmer im Fall einer betriebsbedingten Kündigung unter Umständen vor dem Arbeitsplatzverlust bewahren oder dem gekündigten Arbeitnehmer zu einer (höheren) Abfindung verhelfen, wenn er hierdurch im Vergleich zu anderen zur Entlassung anstehenden Arbeitnehmern sozial schutzbedürftiger werden.

2. Lebensalter

Hinsichtlich des Lebensalters ist auf das Alter des gekündigten Arbeitnehmers und der übrigen Arbeitnehmer zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung abzustellen.

3. Unterhaltspflichten

Bezüglich des weiteren Kriteriums „Unterhaltspflichten“ geht es um die gesetzlichen Unterhaltspflichten nach dem BGB. Ob und in welchem Umfang Unterhaltspflichten bestehen wird nach dem Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung bewertet. Hierbei ist es jedoch gleichgültig, ob der Arbeitnehmer zu diesem Zeitpunkt seinen bestehenden Unterhaltspflichten nicht oder nur mangelhaft nachkommt.

Arbeitnehmer sollten dabei bedenken, dass es nicht zwingend auf die Zahl der Unterhaltsberechtigten ankommt, sondern die Höhe des Unterhalts von Bedeutung sein kann, der rechtlich von diesem zu leisten ist. Insofern sollten die Arbeitnehmer einwenden, wenn der Ehepartner keine oder nur geringe Einkünfte hat.

4. Schwerbehinderung

Als viertes Kriterium ist die Schwerbehinderung eines Arbeitnehmers in die Sozialauswahl einzubeziehen. Voraussetzung für die Berücksichtigung ist allerdings die Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft, also eines Grades der Behinderung von 50 oder mehr. Arbeitnehmer sind daher gut beraten, rechtzeitig die Anerkennung als Schwerbehinderter zu beantragen. Ebenfalls im Rahmen der Sozialauswahl ist zu berücksichtigen, wenn der gekündigte Arbeitnehmer mit einem Grad der Behinderung unter 50 einem Schwerbehinderten gleichgestellt ist.

Wie sieht es mit der Sozialauswahl in Kleinbetrieben aus?

Zwar gilt das Kündigungsschutzgesetz nur in Betrieben mit mehr als 10 Mitarbeitern .

Aus diesem Grund ist auch erst nach Überschreiten dieser Grenzen eine Sozialauswahl der oben beschriebenen Art vorzunehmen.

In einigen Ausnahmefällen hat das Bundesarbeitsgericht aber eine „Sozialauswahl in Kleinbetrieben“ bejaht.

Diese Entscheidungen betrafen jedoch lediglich Fallgestaltungen, in denen die gegenseitigen sozialen Belange und das Mindestmaß an sozialer Rücksichtnahme in eklatanter Weise verletzt wurden.

Eine grundsätzliche Pflicht eine Sozialauswahl im Kleinbetrieb durchzuführen besteht auch nach dieser Rechtsprechung nicht.

Wie sieht es mit der Sozialauswahl bei Leiharbeitern aus?

Die Grundsätze der Sozialauswahl gelten auch für die Kündigung von Arbeitnehmern in Unternehmen, die Arbeitnehmer an andere Unternehmen verleihen.

Die Sozialauswahl ist betriebsbezogen durchzuführen.

Bei Arbeitnehmerüberlassung ist der Betrieb derjenige des Verleihers.

Die im Einsatz befindlichen Leiharbeitnehmer bleiben auch während der Zeit ihrer Arbeitsleistung beim Entleiher Angehörige des Betriebs des Verleihers.

Der Verleiher muss ggf. einen Arbeitnehmer gegen einen der übrigen überlassenen, sozial weniger schutzwürdigen Arbeitnehmer auszutauschen.

Er kann sich in der Regel nicht darauf berufen, keine Sozialauswahl vornehmen zu müssen, weil sich der Entleiher eine Letztentscheidung vorbehält, welcher Arbeitnehmer bei ihm eingesetzt werden soll.

Das verleihende Unternehmen muss ggf. die Sozialauswahl vornehmen, bevor es bei der Neubesetzung von Stellen die Profile seiner Arbeitnehmer an andere Unternehmen übersendet.

Es muss in diesem Fall den Entleihern die Profile der sozial schutzwürdigeren Kandidaten übersenden.

Wie erhalten Arbeitnehmer die Sozialdaten des Arbeitgebers?

Um überprüfen zu können, ob der Arbeitgeber die „richtigen“, also am wenigsten auf seinen Arbeitsplatz angewiesenen Arbeitnehmer entlässt oder bereits entlassen hat, kann sich für den gekündigten Arbeitnehmer insbesondere in größeren Betrieben das praktische Problem stellen, wie an die Sozialdaten der übrigen vergleichbaren Arbeitskollegen heranzukommen ist, denn nur dann ist der gekündigte Arbeitgeber in der Lage, die vom Arbeitgeber vorgenommene Sozialauswahl überprüfen zu lassen und festzustellen, ob die Kündigung aus diesem Grund vor dem Arbeitsgericht mit der Kündigungsschutzklage angegriffen werden soll.

Arbeitnehmer können sich zur Erlangung der Sozialdaten zunächst an die Personalabteilung des Arbeitgebers wenden. Diese kann das Auskunftsverlangen des gekündigten Arbeitne hmers nicht mit der Begründung ablehnen, man dürfe aus datenschutzrechtlichen Gründen keine Auskunft erteilen. Insoweit können sich Arbeitnehmer auf das Urteil des BAG vom 24.03.1983, Aktenzeichen 2 AZR 21/82 berufen.

Nach dem Stand der vorstehend zitierten Rechtsprechung kann ein gekündigter Arbeitnehmer von seinem Arbeitgeber allerdings nicht verlangen, dass er eine vollständige Auflistung der Sozialdaten aller objektiv vergleichbaren Arbeitnehmer seines Betriebes vorlegt. Das Gesetz spricht lediglich von der Angabe der Gründe, die zur Sozialauswahl geführt haben. Der Arbeitgeber hat aber insbesondere Angaben darüber zu machen, welche Arbeitnehmer seiner Meinung nach zum auswahlrelevanten Personenkreis gehören, und zwar unter Angabe der Auswahlkriterien, zu denen in erster Linie Dauer der Betriebszugehörigkeit, Lebensalter und Unterhaltsverpflichtungen zählen. Er muss außerdem angeben, nach welchen Bewertungsmaßstäben er die soziale Auswahl vorgenommen hat.

Eine gute Adresse für Ihre Auskünfte kann auch der Betriebsrat sein, der vor Ausspruch einer betriebsbedingten Kündigung von Ihrem Arbeitgeber anzuhören ist. 

Wenn Arbeitnehmer vom Arbeitgeber keine Auskünfte erhalten oder diese unzureichend erscheinen, dann muss der gekündigte Arbeitnehmer, wenn er die Kündigung nicht akzeptieren will oder die Kündigung rechtlich überprüft wissen will, innerhalb der 3-Wochen-Klagefrist die Kündigungsschutzklage beim Arbeitsgericht erheben. Spätestens dann muss der Arbeitgeber – will er die Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht nicht verlieren – die oben aufgeführten Auskünfte erteilen, wenn der gekündigte Arbeitnehmer die sozialen Daten der übrigen Mitarbeiter nicht wissen konnte.

Wenn ein Arbeitnehmer eine Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht erhebt und sich in dieser auf eine mangelhafte Sozialauswahl beruft, bleibt es unter Umständen nicht aus, dass er die Namen derjenigen Arbeitnehmer benennen muss, die sozial weniger schutzbedürftig sind als der gekündigte Arbeitnehmerselbst. Davor scheuen viele Arbeitnehmer, denen gekündigt wurde, zurück. Sie wollen nicht, dass ihretwegen ein anderer Arbeitnehmer seinen Arbeitsplatz verliert.

Diese Befürchtung ist aber unbegründet. Die Benennung des sozial weniger schutzbedürftigen Arbeitskollegen hat in keiner Weise zur Folge, dass dessen Arbeitsplatz gefährdet ist. Vielmehr geht es nur darum, in dem Kündigungsschutzprozess möglichst gute Argumente zu haben, die den Arbeitgeber befürchten lassen, dass er den Kündigungsschutzprozess verlieren könnte. In diesem Fall wird er bereit sein, eine Abfindung an Sie zu zahlen. Für den Arbeitnehmer, den der gekündigte Arbeitnehmer in dem Rechtsstreit als die sozial weniger schutzbedürftig angegeben hat, wird dies ohne Folgen bleiben. Gekündigte Arbeitnehmer müssen deshalb nicht befürchten, dass die Benennung von sozial weniger schutzbedürftigen Arbeitnehmern unkollegial ist.

Auswirkungen eines Tarifvertrags, einer Betriebsvereinbarung oder eine Richtlinie auf die Sozialauswahl 

Bei größeren Unternehmen kommt es vor, dass zur Durchführung einer Sozialauswahl zwischen Betriebsrat und dem Arbeitgeber sogenannte Auswahlrichtlinien (§ 95 BetrVG) oder auch innerhalb eines Sozialplans/Interessenausgleichs (§ 112 BetrVG) sogenannte Punktetabellen vereinbart werden. Das Bundesarbeitsgericht hat im Urteil vom 18.01.1990, Aktenzeichen 2 AZR 357/89 solche Auswahlrichtlinien mit Punktetabellen für eine Auswahl als geeignet anerkannt, weil die Betriebspartner – Arbeitgeber und Betriebsrat – die Verhältnisse des Betriebs am besten kennen. Entsprechende Regelungen sind aber nur akzeptabel, wenn die Kriterien – Lebensalter, Betriebszugehörigkeit und Unterhaltsverpflichtungen – ausgewogen berücksichtigt werden. Unzulässig ist etwa, wenn in solchen Auswahlrichtlinien Arbeitnehmer bestimmter Abteilungen oder Arbeitsgruppen ohne ausreichende sachliche Kriterien als nicht vergleichbar eingestuft werden. Die Richtlinien müssen für eine Berücksichtigung individueller Besonderheiten Raum lassen.

Lassen Sie sich die Auswahlrichtlinien Ihres Betriebs vom Arbeitgeber oder vom Betriebsrat aushändigen! Prüfen Sie anhand der vorstehenden Tipps, ob die Vergleichbarkeit richtig festgelegt wurde und die sonstigen Kriterien angemessen gewichtet sind.

Haben Arbeitnehmer begründete Zweifel, muss das Arbeitsgericht die Punktetabelle für den gekündigten Arbeitnehmer prüfen. Gleiches gilt, wenn solche Tabellen in einem Interessenausgleich/Sozialplan enthalten sind.

Beispiel für ein zugelassenes Punkteschema: 

Unterhaltspflicht für Ehegatte: 8 Punkte

Unterhaltspflicht für Kind: 4 Punkte

Betriebszugehörigkeit bis 10 Jahre je Beschäftigungsjahr: 1 Punkt

Betriebszugehörigkeit ab dem 11. Jahr je Beschäftigungsjahr: 2 Punkte

(bis zum vollendeten 55. Lebensjahr, maximal 70 Punkte)

Lebensalter je vollendetem Lebensjahr: 1 Punkt

(maximal 55 Punkte)

Besonders beachten sollten Arbeitnehmer den ausdrücklich in § 1 Abs. 4 KSchG geregelten Fall

  • dass in einem Tarifvertrag oder
  • in einer Betriebsvereinbarung nach § 95 BetrVG – ein für die erfassten Arbeitnehmer geltendes Betriebsgesetz! – oder
  • in einer entsprechenden Richtlinie nach den Personalvertretungsgesetzen

festgelegt sein kann, wie die aufgezeigten sozialen Gesichtspunkte im Verhältnis zueinander zu bewerten sind.

Dann ist für die zutreffende Sozialauswahl das dort Geregelte maßgeblich! Sie haben in puncto Sozialauswahl praktisch keine Chance, wenn Sie durch das dort geführte Raster fallen.

Auch das Arbeitsgericht ist in seiner Korrekturkompetenz eingeschränkt, weil es in diesem Fall die in den Regelungen vorgenommene Bewertung nur auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüfen kann!

Als grob fehlerhaft kann etwa nur angesehen werden, wenn die getroffenen Sozialauswahlregelungen bei der Gewichtung der Betriebszugehörigkeit, des Lebensalters und der Unterhaltspflicht der Arbeitnehmer ganz naheliegende Gesichtspunkte nicht in die Überlegungen miteinbezogen haben und die gebotene Ausgewogenheit evident verfehlt worden ist. Der Fehler muss „ins Auge springen“.

Stellt ein Arbeitnehmer eine solche „Ungerechtigkeiten“ in einer der genannten Regelungen fest, sollte er sich zur Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht entschließen und diesen Einwand dort vortragen und so seinen Arbeitsplatz retten oder die Chance auf eine Abfindung erhalten.

Auch wenn die Sozialauswahl nach den vorstehenden Gesichtspunkten nur eingeschränkt überprüfbar ist, so gilt dennoch, dass es vielen andere Hürden gibt, um eine Kündigung zu Fall zu bringen.

Foto(s): kanzlei JURA.CC

Rechtstipp aus dem Rechtsgebiet

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