BAG: Pflicht zur Arbeitszeiterfassung! Zurück zur Stechuhr?

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Muss die tatsächliche Arbeitszeit der Arbeitnehmerin/des Arbeitnehmers vom Arbeitgeber erfasst werden und gilt diese Pflicht auch unmittelbar für deutsche Arbeitgeber?

Diese Frage hat das Bundesarbeitsgericht in Erfurt (BAG) in einer aktuellen Entscheidung zur Arbeitszeiterfassung vom 13.9.2022 bejahend beantwortet. Die Bewertung des BAG hat unmittelbar für ein großes Echo der betroffenen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände geführt. In einschlägigen Medien wird getitelt: „Zurück zur Stechuhr“ (Quelle: https://www.tagesschau.de/inland/arbeitszeiterfassung-stechuhr-urteil-bundesarbeitsgericht-101.html ), „Endlich wieder Überstunden!“(Quelle: https://www.spiegel.de/karriere/arbeitszeiterfassung-wird-in-deutschland-zur-pflicht-kommentar-a-5e85941f-833b-41de-a01c-aee5a3361e50 ) oder „Arbeitszeiterfassung wird in Deutschland Pflicht: Kommt die Stechuhr jetzt auch in meinem Betrieb?“ (Quelle: https://www.rnd.de/wirtschaft/arbeitszeiterfassung-wird-pflicht-was-bedeutet-das-fuers-homeoffice-ein-faq-UOPWHBLQ3VHGPCRRHHPILSJGTA.html ).

Hintergrund

Die Frage nach der Arbeitgeberpflicht zur Arbeitszeiterfassung war eigentlich bereits seit dem Urteil des Großen Senats am Europäischen Gerichtshof vom 14.9.2019 entschieden (EuGH, Urteil vom 14. Mai 2019 – C-55/18 –, juris). Demnach besteht gemeinschaftsrechtlich gem. Art. 3, 5 und 6 EGRL 88/2003, Art. 31 Abs. 2 EUGrdRCh, EWGRL 391/89 (- Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer bei der Arbeit - tägliche und wöchentliche Ruhezeit - wöchentliche Höchstarbeitszeit -) die Pflicht des Arbeitgebers zur Einrichtung eines Systems zur Erfassung der täglichen effektiven Arbeitszeit. Die Daten der objektiven Erfassung sind demnach durch den Arbeitgeber für Arbeitnehmerinnen/Arbeitnehmer auch zugänglich zu machen (a. a. O.). Diese Pflicht gilt daher grds. auch für Arbeitgeber in sämtlichen Mitgliedstaaten.

Im Nachgang wurde an den deutschen Arbeitsgerichten bis zuletzt weiter über die Auswirkungen der Rspr. des EuGH, die Verpflichtung und deren Folgen für deutsche Arbeitgeber und Arbeitnehmer (zuletzt insbesondere im Zusammenhang mit der Darlegungs- und Beweislast von Überstunden/Mehrarbeit - vgl. u.a. BAG, Urteil vom 4. Mai 2022 – 5 AZR 474/21 –, juris) gestritten. Parallel wurde/wird vom Bundesgesetzgeber über eine entsprechende Änderung und Anpassung der Vorschriften im deutschen Arbeitszeitgesetz (ArbZG) bis zuletzt debattiert. Die Umsetzung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in nationales Recht ließ somit weiter auf sich warten.

Entscheidung des BAG

Nun hat das Bundesarbeitsgericht mit der o. g. Grundsatzentscheidung des ersten Senats festgestellt, dass diese Arbeitgeberpflicht auch in der Bundesrepublik Deutschland bereits aus den bestehenden Vorschriften im Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) besteht und jedenfalls bei gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung des ArbSchG hergeleitet werden muss (vgl. BAG, Beschluss vom 13. September 2022, Az.: 1 ABR 22/21, BAG-Pressemitteilung Nr. 35/22 vom 13.9.2022).

Die (scheinbar) zuletzt noch bestehende Frage, ob Arbeitgeber zur Arbeitszeiterfassung verpflichtet sind, muss demnach zweifelsfrei auch für deutsche Arbeitgeber bejaht werden.

In dem hier besprochenen Verfahren vor dem BAG ging es darum, dass ein Betriebsrat aus dem BetrVG ein Initiativrecht zur dort bislang unterbliebenen Einführung einer elektronischen Arbeitszeiterfassung gegenüber dem Arbeitgeber nach ausbleibender Einigung gerichtlich erzwingen wollte (BAG, a. a. O.). Der Betriebsrat hatte dafür in einem hierfür vorgesehenen Beschlussverfahren vor den Arbeitsgerichten die Feststellung begehrt, dass ihm ein Initiativrecht zur Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystems zusteht (a. a. O.).

Das Landesarbeitsgericht hatte dem Antrag des Betriebsrats noch stattgegeben (a. a. O.). Die gegen diese Entscheidung gerichtete Rechtsbeschwerde der betr. Arbeitgeberinnen hatte vor dem Ersten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg (a. a. O.).

Da Arbeitgeber nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG bereits verpflichtet sind, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann, könne der Betriebsrat auf Grund dieser gesetzlichen Pflicht die Einführung eines Systems der (elektronischen) Arbeitszeiterfassung im Betrieb nicht mithilfe der Einigungsstelle erzwingen (a. a. O.). Ein entsprechendes Mitbestimmungsrecht nach § 87 BetrVG bestehe nämlich nur, wenn und soweit die betriebliche Angelegenheit nicht schon gesetzlich geregelt ist (a. a. O.).

Der Betriebsrat hat nach § 87 Abs. 1 BetrVG in sozialen Angelegenheiten nur mitzubestimmen, soweit eine gesetzliche oder tarifliche Regelung nicht besteht (a. a. O.). Bei unionsrechtskonformer Auslegung von § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG ist der Arbeitgeber jedoch gesetzlich verpflichtet, die Arbeitszeiten der Arbeitnehmer zu erfassen (a. a .O.). Dies schließt ein – ggfs. mithilfe der Einigungsstelle durchsetzbares – Initiativrecht des Betriebsrats zur Einführung eines Systems der Arbeitszeiterfassung aus (a. a. O.).

Rechtliche Bewertung

Die Entscheidung des BAG ist nicht zuletzt gemeinschaftsrechtlich durchaus zu begrüßen. Nach der letzten Entscheidung des 5. Senats am BAG im Kontext der Darlegungs- und Beweislast durch vom Arbeitnehmer geforderte Abgeltung von Überstunden/Mehrarbeit (BAG, Urteil vom 4. Mai 2022 – 5 AZR 474/21 –, juris) war in Verbindung mit der bislang nur zögerlichen Umsetzung der Rechtsprechung des EuGH in nationales Recht Ernüchterung bei Arbeitnehmervertretern eingezogen.

Nun dürfte jedoch (wieder) feststehen, dass sich aus den Vorschriften im Arbeitsschutzgesetz i. V. m. der Rechtsprechung des EuGH bereits die Pflicht zur objektiven Arbeitszeiterfassung auch für deutsche Arbeitgeber ergibt. Die bisherigen Debatten zur Änderung des deutschen Arbeitszeitgesetzes sind daher von der Rechtsprechung des BAG überholt worden.

Die Entscheidung wird mutmaßlich weitreichende Auswirkungen auf das deutsche Arbeits- und Arbeitszeitrecht entfalten. Schließlich betrifft diese Pflicht zwangsläufig u.a. auch den bisher vollständig von jedweder effektiver Arbeitszeiterfassung „ausgeklammerten“ Schuldienst und Hochschuldienst – also ab sofort auch Lehrer und Hochschullehrer.

Auch die zuletzt nochmals vom BAG durch den 5. Senat geklärte Frage der weiter grds. auf Seiten des Arbeitnehmers liegenden Darlegungs- und Beweislast im Hinblick auf die Abgeltung von Überstunden dürfte im Lichte der nunmehr aus Sicht des BAG geltenden rechtlichen Bewertung des Arbeitsschutzgesetzes faktisch von der Lebenswirklichkeit überholt werden. Besteht nämlich bei gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung der Vorschriften im Arbeitsschutzgesetz national (und daneben auch gemeinschaftsrechtlich) die Pflicht für den Arbeitgeber, die Arbeitszeit objektiv zu erfassen und die Erfassung den Arbeitnehmerinnen/Arbeitnehmern objektiv zugänglich zu machen, betrifft dies im Ergebnis selbstredend auch angeordnete und geleistete Überstunden bzw. Mehrarbeit. Daher wird es zukünftig auf bisher an den Arbeitsgerichten häufige Fragen der Darlegungs- und Beweislast der Leistung von Überstunden wohl nicht mehr gehäuft ankommen. Auch Rechtsstreitigkeiten hierzu dürften - jedenfalls bei Einhaltung der Pflichten durch den Arbeitgeber - in Zukunft eher ab- als zunehmen.

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