GdB - koronare Herzerkrankung

  • 6 Minuten Lesezeit

Nachfolgend will ich anhand von Fällen, die wir in unserer Kanzlei bearbeitet haben und anhand der jeweiligen Diagnosen, Einschränkungen und der in Gutachten festgestellten Messwerte Anhaltspunkte geben, wie sich bei koronaren Herzerkrankungen der GdB bestimmt.

Grundlagen

Die Richtwerte für die Einzel-GdB finden sich in der Versorgungsmedizin-Verordnung, dort unter dem Kapitel B 9.1.

https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/PDF-Publikationen/k710-versorgungsmed-verordnung.pdf?__blob=publicationFile&v=3

Wie im gesamten Recht der Anerkennung einer Schwerbehinderung kommt es nicht auf die Diagnose an, sondern auf die verbleibende Funktionsbeeinträchtigung.

So heißt es zB. unter B 9.1.3.:

  • Nach einem Herzinfarkt ist der GdS von der bleibenden Leistungsbeeinträchtigung abhängig.

Auch die Operation spielt nur ausnahmsweise eine Rolle, was B 9.1.3 zeigt:

  • „Nach operativen und anderen therapeutischen Eingriffen am Herzen ist der GdS von der bleibenden Leistungsbeeinträchtigung abhängig. Bei Herzklappenprothesen ist der GdS nicht niedriger als 30 zu bewerten; dieser Wert schließt eine Dauerbehandlung mit Antikoagulantien ein.“

Nur in einem Fall gibt die durchgeführte Operation den GdB vor, B 9.1.4

  • „Nach Herztransplantation ist eine Heilungsbewährung abzuwarten (im Allgemeinen zwei Jahre); während dieser Zeit ist ein GdS von 100 anzusetzen. Danach ist der GdS selbst bei günstigem Heilungsverlauf unter Berücksichtigung der erforderlichen Immunsuppression nicht niedriger als 70 zu bewerten.

Leider denken viele Betroffene immer noch, dass ein Herzinfarkt unweigerlich einen GdB von 50 nach sich zieht, da dies schließlich ein ganz massiver Vorfall ist. Das war vor vielen Jahren noch so, doch die Medizin hat gewaltige Fortschritte gemacht, so dass die bleibenden Funktionseinschränkungen längst nicht mehr so gravierend sind wie früher. Herzerkrankungen gehen als Todesursache auch seit Jahren zurück. Allerdings nehmen Behandlungen und Operationen auf dem Gebiet zu.

Es kommt darauf an, welche Restleistungsfähigkeit das Herz bspw. nach einem Herzinfarkt hat. Die Versorgungsmedizin-Verordnung gibt hier Anhaltspunkte, aber nur unzureichende. Als Beispiel:


Leistungsbeeinträchtigung bei mittelschwerer Belastung (z.B. forsches Gehen [5 – 6 km/h], mittelschwere körperliche Arbeit), Beschwerden und Auftreten pathologischer Messdaten bei Ergometerbelastung mit 75 Watt (wenigstens 2 Minuten)    =  GdB 20 - 40

Unter Leistungsbeeinträchtigungen sind insb. Insuffizienzerscheinungen wie Atemnot und anginöse Schmerzen zu verstehen. Sie spielen für die Bestimmung des GdB alleine keine Rolle. Es reicht also nicht die Behauptung: „Wenn ich nur eine Stufe auf der Treppe steige, habe ich sofort starke Schmerzen in der Brust und Luftnot“.

Der Arzt wird sich vielmehr von Messdaten leiten lassen und schauen, ob und je nachdem wann Luftnot oder Schmerzen auftreten. Allerdings spielt nicht nur der Ergometer-Test (Belastungs-EKG) eine Rolle.

Erster Fall

Befundbericht: „Der Patient war stationär im M-Hospital unter dem Krankenbild des NSTEMI bei koronarer Ein-Gefäß-Erkrankung. Dort wurde am … PCI und DES-Implantation in LAD durchgeführt. Bei erneut aufgetretenen thorakalen Schmerzen mit Troponinanstieg erfolgte eine Re-Koronarangiographie. Hier zeigte sich eine akute Stentthrombose. Es erfolgte eine Nachdilatation des medialen LAD-Stents mit NC-Balloon und überlappende DES-Implantation.“

Kann man hieran erkennen, welchen GdB der Patient bekommt? Nein, denn hier werden nur das Infarktgeschehen und die operative Versorgung beschrieben. Klinisch ist zwar die Langzeitüberlebensrate von Patienten größer, deren betroffenes Gefäß sich rechts am Herzen befindet; hier war links der Ramus interventricularis anterior (LAD) betroffen, was zunächst mal nicht so gut ist. Aber darauf kommt es nicht an, es kommt nur auf die verbleibende Leistungsbeeinträchtigung an.

Die kann gemessen werden. Hierzu macht man ein fast immer ein Ergometrie-Belastungs-EKG. In der Regel fängt man bei 50 Watt an, dann wird auf 75 gesteigert, auf 100, auf 125 usw. Dabei werden der Blutdruck und der Puls gemessen.

Weiterhin wird mittels Echokardiografie neben anderen Werten (Herzkammergröße, Gefäßdurchmesser) ein für die GdB-Bestimmung sehr aussagekräftiger Wert bestimmt, nämlich die linksventrikuläre Ejektionsfraktion, also die Pumpleistung der linken Herzkammer.

Bei unserem Mandanten las sich dies wie folgt:

Belastungs-EKG: In Ruhe vor Belastung Blutdruck 100/70 mmHg, Herzfrequenz 60/min, Belastung über 50, 75, 100, 125 W 1 Minute, dabei Blutdruckanstieg auf 160/80, Herzfrequenz 114/min. Im Überwachungszeitraum keine kardialen Beschwerden, im EKG keine Ischämie.

Echokardiografie: Normal große Links- und Rechtsherzhöhlen, … apikale Hypokinesie (= Reduzierung der Herzmuskelbeweglichkeit als Spätfolge des Herzinfarkts) mit noch erhaltener LV-Funktion, EF 50%, RV-Funktion ohne Befund.

Nun haben wir alles zusammen, um den GdB zu bestimmen:

Man denkt vielleicht, EF 50% bedeute etwas sehr schlimmes (Herz schlägt nur noch mit halber Kraft). Nein. Für die Pumpleistung gilt folgendes:

EjektionsfraktionPumpfunktion
52–72 %normal
41–51 %leichtgradig eingeschränkt
30–40 %mittelgradig eingeschränkt
< 30 %hochgradig eingeschränkt

Es liegt hier nur eine leichtgradig reduzierte Pumpfunktion vor, und außerdem konnte der Mandant die 75 Watt-Stufe auf dem Ergometer absolvieren, ohne dass eine Unterversorgung von Organen mit Blut auftrat (= keine Ischämiezeichen), er bekam keine Luftnot, keine Schmerzen im Brustbereich. Der Blutdruck und die Herzfrequenz lagen angesichts der Belastung im Normbereich.

Das ist ein GdB von 10; mit ganz viel Glück vergibt ein Arzt hier einen „schwachen“ GdB 20, der aber dann eine andere Erkrankung (zB Wirbelsäule mit GdB 30) nicht erhöhen würde.

Zweiter Fall

Dann noch ein Beispiel, um zu zeigen, wie das Versorgungsamt vorgeht. Der Fall ist noch nicht beendet.

Dazu muss man sagen: Es gibt Sachbearbeiter, die Ihren Fall bearbeiten, und es gibt Ärztinnen beim dort angesiedelten ärztlichen Dienst; die werden hinzugezogen, um Ihre beigefügten medizinischen Unterlagen auszuwerten. Die Sachbearbeiter sind zwar in zeitlicher Hinsicht meist überfordert, weshalb es manchmal wahnsinnig lange dauert, aber ansonsten sind sie in der Regel nicht bösartig und würden Ihnen auch gerne helfen. Sie sind nur leider an die Auswertung des ärztlichen Dienstes gebunden. Wenn Ihnen also Prozente „vorenthalten“ werden, ist die Ursache eher dort zu suchen. Über die wahren Motive kann man nur spekulieren, daher lass ich es. Es gibt jedoch ganz erhebliche Unterschiede von Kreis zu Kreis.

Also, hier das zweite Beispiel:

Befund Kardiologe:

Intaktes biventrikuläres ICD-System, Z. n. Implantation im X Krankenhaus bei komplettem Linksschenkelblock, mittel- bis höhergradige zentroexzentrische Mitralklappeninsuffizienz bei Koadaptionsstörung sowie leicht restriktiv wirkendem posteriorem Mitralsegel CRT-versorgter dilatativer Kardiomyopathie und mittelgradig reduzierter linksventrikulärer Funktion; dilatierter linker Ventrikel mit mittelgradig reduzierter linksventrikulärer Funktion, EF 42%. Herzinsuffizienz im Stadium NYHA II.

Gutachten des ärztlichen Dienstes:

Funktionsbeeinträchtigung von Herz-Kreislauf (neue Mitralklappe), NYHA II, Schrittmacher, EF 42% = GdB 40.

Die Mandantin legte selbst Widerspruch hiergegen ein. Bei einem Widerspruch wird die Akte immer dem ärztlichen Dienst wiedervorgelegt. Dieser gab folgende neue Stellungnahme ab:

Funktionsstörung Herz-Kreislauf (Zustand nach Anlage eines Clips an der Mitralklappe, Implantation eines Defibrillators) = GdB 30; jetzt zusätzlich GdB 20 für die Knie, es bleibt insgesamt bei 40.

Richtig? Zunächst schauen wir uns das Leistungsvermögen des Herzens an.

Inzwischen wissen wir: EF 42% ist zwar immer noch leichtgradig, aber ganz kurz vor mittelschwer.

Insuffizienz NYHA Grad II bedeutet: Die Herzinsuffizienz geht mit leichten Einschränkungen der körperlichen Leistungsfähigkeit einher. Bei alltäglichen körperlichen Belastungen fühlt sich der Patient schnell erschöpft oder bekommt Atemnot, es treten aber keine Beschwerden im Ruhezustand auf.

Das sagt insgesamt herzlich wenig, wenn diese Einstufung nicht mit weiteren Daten belegt ist. Laut Befundbericht wurde kein Leistungstest durchgeführt, Daten aus einem Belastungs-EKG lagen nicht vor. Bei welcher Watt-Stufe und warum die Mandantin einen Ergometertest abbricht, wissen wir nicht. Das macht die Sache schon schwierig, denn der Ergometertest dient nach der VersMedV als Grundlage; somit ist der Sachverhalt nicht vollständig ermittelt.

Wir haben oben aber auch gelesen, dass es bestimmte Eingriffe gibt, die einen Mindest-GdB nach sich ziehen.

Da ist einmal die Ersatzklappe, die mindestens mit einem GdB von 30 bewertet wird. Hier wurde die Klappeninsuffizienz aber mittels Clip behoben, es wurde keine neue (künstliche) Klappe eingesetzt mit der Folge lebenslanger Therapie mit Antikoagulantien (Marcumar). Von daher könnte es auch weniger als 30 geben.

Aber: Die Mandantin hatte früher Herzrhythmusstörungen; ihr wurde deshalb ein ICD eingesetzt (implantierbarer Cardioverter-Defibrillator). Nun müsste die Gutachterin eigentlich bei B 9.1.6 schauen, wo steht:


9.1.6 Rhythmusstörungen


nach Implantation eines Herzschrittmachers
10

nach Implantation eines Kardioverter-Defibrillators
wenigstens 50

Der Mandantin steht eigentlich mindestens ein Grad 50 zu, gleichgültig, welche Restleistungsfähigkeit das Herz hat. Es ist auch egal, ob noch Tachykardien oder synkopale Ereignisse auftreten. Seltsam: Die Gutachterin hatte den Unterschied zwischen Schrittmacher und Defi erkannt, änderte das Gutachten entsprechend ab, gab aber trotzdem keinen Einzel-GdB von 50. Das Klageverfahren läuft. 


Update: Das Klageverfahren vor dem SG Köln ist inzwischen beendet (April 2021). Nach Einholung eines fachinternistischen Sachverständigengutachtens bekam die Mandantin einen GdB von 60 zugesprochen, das Gerichtsverfahren endete durch Anerkenntnis.




Rechtstipp aus den Rechtsgebieten

Artikel teilen:


Sie haben Fragen? Jetzt Kontakt aufnehmen!

Weitere Rechtstipps von Rechtsanwalt Oliver Derkorn