Impfpflicht in Gesundheit und Pflege: Schwerer Rechtsbruch durch BVerfG – Was jetzt?

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Mit abgrundtiefer Enttäuschung haben Betroffene der Gesundheitsberufe und Pflege die Entscheidung des Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vom 27.04.2022 -1 BvR 2649/21- zur Kenntnis nehmen müssen, womit ihre Verfassungsbeschwerden gegen die einrichtungsbezogene Impfpflicht (Immunitätsnachweis-Pflicht) gemäß § 20a Infektionsschutzgesetz (IfSG) zurückgewiesen wurden.

Nach § 20a Abs. 1 Satz 1 IfSG müssen in Einrichtungen und Unternehmen des Gesundheitswesen und der Pflege die Beschäftigten ab dem 15.03.2022 geimpft oder genesen sein und dem Arbeitgeber einen Immunitätsnachweis (Impfnachweis oder Genesenennachweis oder ärztliches Zeugnis über medizinische Kontraindikation) vorlegen.

Dem Beschluss vorausgegangen war (unter demselben Aktenzeichen) die Eilentscheidung vom 10.02.2022, mit welchem die beantragte vorläufige Außervollzugsetzung abgelehnt wurde.

Beide BVerfG-Entscheidungen stellen nach Überzeugung des Verfassers die Menschenwürde, das Recht auf körperliche Unversehrtheit und auf Selbstbestimmung sowie freie Berufswahl verletzende schwere Rechtsbrüche dar, die gewaltigen Flurschaden am deutschen Rechtsstaat anrichten.

A. Erster Rechtsbruch – Eilbeschluss vom 10. Februar 2022

Der Antrag auf einstweilige Anordnung wurde mit der Begründung, dass für die beantragte Außervollzugsetzung „besonders hohe Hürden“ gelten würden. Gemessen an diesen strengen Anforderungen habe der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung keinen Erfolg.

I. Entscheidungsgründe des Eilbeschluss

Zwar sei die Verfassungsbeschwerde „nicht offensichtlich unbegründet“, da- unter dem Gesichtspunkt des Gesetzesvorbehalt bzw. der Wesentlichkeitstheorie- „jedenfalls Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der in § 20a IfSG gewählten gesetzlichen Regelungstechnik“ mit „doppelter dynamischer Verweisung“ (Hervorhebungen durch Unterz, auch nachfolgend jeweils) bestünden.

Hintergrund der formalen Problematik war, dass der Impf- oder Genesenennachweis zum Zeitpunkt der Eilentscheidung den Anforderungen des § 2 Nr. 3 und 5 der sog. COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung entsprechen musste, die ihrerseits wegen der Nachweisvoraussetzungen auf die Netzseiten des Paul-Ehrlich-Institut (PEI) und des Robert Koch-Institut (RKI) verwies.

Jedoch sei, so das BVerfG, die Außervollzugsetzung nach der danach gebotenen Folgenabwägung nicht gerechtfertigt.

Kämen die Betroffenen der auferlegten Nachweispflicht nach und willigten in die Impfung ein, löse dies „zwar körperliche Reaktionen aus“, könne „ihr körperliches Wohlbefinden jedenfalls vorübergehend beeinträchtigen“ und könnten „im Einzelfall können auch schwerwiegende Impfnebenwirkungen eintreten, „die im extremen Ausnahmefall auch tödlich sein können.“ Eine erfolgte Impfung sei „auch im Falle eines Erfolgs der Verfassungsbeschwerde irreversibel.“

„Allerdings“ verlange, so das BVerfG dann einschränkend, „das Gesetz den Betroffenen nicht unausweichlich ab, sich impfen zu lassen.“

Für Impfunwillige könne dies zwar „vorübergehend mit einem Wechsel der bislang ausgeübten Tätigkeit oder des Arbeitsplatzes oder sogar mit der Aufgabe des Berufs verbunden sein. Dass die in der begrenzten Zeit bis zur Verfassungsbeschwerde-Entscheidung möglicherweise eintretenden „beruflichen Nachteile irreversibel oder auch nur sehr erschwert revidierbar sind oder sonst sehr schwer wiegen“, hätten die Beschwerdeführer jedoch nicht dargelegt, und dies sei „auch sonst – jedenfalls für den genannten Zeitraum – nicht ersichtlich.“

Würde dagegen die einstweilige Anordnung ergehen und hätte danach die Verfassungsbeschwerde keinen Erfolg, seien „die Nachteile, die sich aus der Nichtanwendung der angegriffenen Regelungen ergeben, ebenfalls von besonderem Gewicht.“

Hochaltrige und vulnerable Menschen seien für die Dauer des Verfassungsbeschwerdeverfahrens dann einer „deutlich größeren Gefahr ausgesetzt, sich mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 zu infizieren und deshalb schwer oder gar tödlich zu erkranken.“

Nach der „weitgehend übereinstimmenden Einschätzung der angehörten sachkundigen Dritten“ sei „davon auszugehen, dass COVID-19-Impfungen einen relevantenwenngleich mit der Zeit deutlich nachlassendenSchutz vor einer Infektion auch mit Blick auf die Omikronvariante des Virus bewirken.“

Würde, so das BVerfG, „die einrichtungs- und unternehmensbezogene Nachweispflicht nun vorläufig außer Vollzug gesetzt, ginge dies aber mit einer geringeren Impfquote in den betroffenen Einrichtungen und Unternehmen und damit einer erhöhten Gefahr einher, dass sich die dort Tätigen infizieren und sie dann das Virus auf vulnerable Personen übertragen.“

Vor diesem Hintergrund überwögen „letztlich die Nachteile, mit denen bei einer vorläufigen Außerkraftsetzung der angegriffenen Regelung für den Zeitraum bis zur Entscheidung in der Hauptsache zu rechnen wäre.“ Denn „schwerwiegende Nebenwirkungen oder gravierende Folgen, die über die durch die Verabreichung des Impfstoffes induzierte Immunantwort hinausgehen“, seien „nach derzeitigem Kenntnisstand sehr selten.“

„Ungeachtet dessen“ bleibe „es den von der Nachweispflicht betroffenen Personen unbenommen, sich gegen eine Impfung zu entscheiden.“ Es sei nicht zu besorgen, „dass die damit verbundenen beruflichen Nachteile in der begrenzten Zeit bis zur Entscheidung über die Hauptsache sehr schwer wiegen.“

„Der sehr geringen Wahrscheinlichkeit von gravierenden Folgen einer Impfung“, so das BVerfG, stehe „die deutlich höhere Wahrscheinlichkeit einer Beschädigung von Leib und Leben vulnerabler Menschen gegenüber“, sodass „bei der Folgenabwägung der jeweils zu erwartenden Nachteile“ daher „das Interesse der Beschwerdeführenden zurücktreten“ müsse, „bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde weiterhin ungeimpft in den betroffenen Einrichtungen und Unternehmen tätig sein zu können.“

II. Kritik am Eilbeschluss

Die vom BVerfG aufgezeigte „Wahlmöglichkeit“ negiert die Lebenswirklichkeit, dass die Betroffenen in der Regel im Gesundheitssektor bzw. Pflegesektor langjährig ausgebildete, berufserfahrene und fachspezialisierte Kräfte sind, die in ihrem Berufsumfeld fest verankert sind und nicht „mal eben“ den „Job wechseln“ in irgendeine ungelernte Tätigkeit, um später einfach wieder zurückzukehren.

Das BVerfG verkennt die Lebensverhältnisse der Beschäftigten auch insoweit, als diese aufgrund ihrer Qualifikation zumeist ein erheblich höheres Entgelt als in ungelernter Ersatztätigkeit beziehen und das höhere Entgelt finanzielle Existenzgrundlage für die Betroffenen und ihre Familie bildet, die nicht einfach -sei es auch „nur vorübergehend“- durch beliebige Jobwechsel ersetzt werden kann.

Die vom BVerfG hervorgehobene Unterscheidung von echtem, zwangsweise durchsetzbaren „Impfzwang“ ist danach -zumindest bei großem Teil der Betroffenen- eine theoretische.

Unerträglich an der Eilentscheidung ist, dass sie bereits durchblicken lässt, dass in der Hauptsache voraussichtlich unverändert entschieden werde, indem es in der BVerfG-Pressemitteilung heißt:

„Die Einführung der einrichtungs- und unternehmensbezogenen Pflicht zum Nachweis einer Impfung, Genesung oder Kontraindikation in § 20a IfSG als solche begegnet zum Zeitpunkt der Entscheidung (zwar) keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken.“ (Klammer durch Verfasser)

Die „Würfel“ waren beim ersten Senat (dem auch Präsident Harbarth angehört, der einige Monate zuvor mit -zurückgewiesenem- Befangenheitsantrag im ebenfalls Corona-Maßnahmen betreffenden Verfahren 1 BvR 781/21 – belegt war) also schon damals gefallen – ein höchstbedenklicher Befund.

Bereits der Eilbeschluss war offensichtlich grundgesetzwidrig. Die Folgenabwägung hätte angesichts der unzureichend gesicherten Erkenntnisse zur Impfwirksamkeit, angesichts des schon damaligen „Regimewechsel“ von Delta zu Omikron, und der unzureichend geklärten Impfrisiken und der Irreversibilität der Impfung gegenteilig zugunsten der Gesetzes-„Aussetzung“ ausfallen müssen.

B. Zweiter Rechtsbruch - Ablehnungsbeschluss vom 27. April 2022

Durch die erneut ablehnende Entscheidung über die sog. Rechtssatz-Verfassungsbeschwerde (diese war ohne vorherige Rechtswegerschöpfung zulässig) wurde der vorgeschilderte erste Rechtsbruch durch einen Zweiten verstärkt durch verlängerte Hinnahme der Zwangslage der Beschäftigten bis Außerkrafttreten des § 20a IfSG zum 1. Januar 2023 (sollte Gesetzesverlängerung unterbleiben, die angesichts der derzeitigen Herbst-„Killervariante“-Diskussion durch Gesundheitsminister Lauterbach keineswegs ausgeschlossen erscheint).

Warum die Veröffentlichung erst am 19. Mai 2022 erfolgte, ist angesichts der Bedeutung der Sache für die betroffenen Beschäftigten, aber auch für die betroffenen Einrichtungen mit den daraus gezeitigten personellen Unsicherheiten schwerlich nachvollziehbar.

Nach der Eilentscheidung hat der Gesetzgeber am 18. März 2022 das IfSG dahin geändert, dass wegen des Immunitätsnachweis mit Wirkung ab 19. März 2022 fortan auf den neuen § 22a Abs. 1 und 2 IfSG verwiesen wird. Durch die Gesetzesänderung haben sich die -im Eilverfahren geäußerten- formalen Bedenken gegen die ursprüngliche Gesetzestechnik erledigt.

Das BVerfG gelangt zum -nach seiner Voräußerung im Eilbeschluss wenig überraschenden- Ergebnis, die Verfassungsbeschwerde habe „in der Sache keinen Erfolg.“ und begründet dies wie folgt:

I. § 20a IfSG greife in die durch Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG geschützte körperliche Unversehrtheit ein.

Der Eingriff sei jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt.

1. Der „Gewährleistungsgehalt“ des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG werde durch die Pflicht, die Impfung nachzuweisen, verkürzt.

Als Abwehrrecht schütze das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit den Einzelnen grundsätzlich auch vor staatlichen Maßnahmen, die „lediglich mittelbar zu einer Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit und des diesbezüglichen Selbstbestimmungsrechts führen.“

Zwar setze die COVID-19-Impfung eine vorherige, nach ärztlicher Aufklärung erteilte Einwilligung voraus. Eine Entscheidung gegen die Impfung sei „jedoch mit nachteiligen Konsequenzen verbunden, weshalb die an sich selbstbestimmt zu treffende Impfentscheidung von äußeren, faktischen und rechtlichen Zwängen bestimmt“ werde.

Das BVerfG erkennt hiermit das Bestehen der obenstehend beanstandeten psychischen Zwangslage an. Wer ungeimpft bleiben wolle, müsse bei Fortsetzung der Tätigkeit mit einer bußgeldbewehrten Nachweisanforderung und einem bußgeldbewehrten Tätigkeitsverbot in den in § 20a IfSG genannten Einrichtungen und Unternehmen rechnen. Alternativ bleibe nur die Aufgabe des ausgeübten Berufs, ein Wechsel des Arbeitsplatzes oder der bislang ausgeübten Tätigkeit.

2. Dieser Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit sei „verfassungsrechtlich gerechtfertigt.“

a) Der Gesetzgeber verfolge den „legitimen Zweck, vulnerable Menschen vor einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 zu schützen.“

Der Gesetzgeber habe zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Gesetzes (10. Dezember 2021!) „von einer sich verschärfenden pandemischen Lage und einer damit einhergehenden besonderen Gefährdung älterer und vorerkrankter Menschen ausgehen“ können und die „Annahme insbesondere einer besonderen Gefährdung dieser vulnerablen Menschen“ trage „nach wie vor“.

b) Die Pflicht zum Nachweis der Corona-Impfung sei „auch geeignet.“ Der Gesetzgeber habe „davon ausgehen“ können, „dass die Pflicht zum Nachweis einer Impfung oder Genesung aller Personen, die in bestimmten Einrichtungen oder Unternehmen tätig sind, zum Schutz des Lebens und der Gesundheit vulnerabler Menschen beitragen kann.“

Zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Gesetzes sei „eine deutliche fachwissenschaftliche Mehrheit“ davon ausgegangen, „dass sich geimpfte und genesene Personen seltener mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 infizieren und daher das Virus seltener übertragen können.“

„Angenommen“ worden sei auch, „dass Geimpfte bei einer Infektion weniger und kürzer als nicht Geimpfte infektiös sind.“ Die „Vertretbarkeit dieser gesetzgeberischen Eignungsprognose“ werde „durch die weitere Entwicklung des Pandemiegeschehens verbunden mit der Ausbreitung der Omikronvariante des Virus ausweislich der Stellungnahmen der im hiesigen Verfahren als sachkundige Dritte angehörten Fachgesellschaften nicht erschüttert.

c) Die „Nachweispflicht“ sei „zum Schutz vulnerabler Menschen auch (…) erforderlich.“ Für den Gesetzgeber habe insoweit ein „weiter Beurteilungsspielraum“ bestanden, denn „die Pandemie“ sei „durch eine gefährliche, aber schwer vorhersehbare Dynamik geprägt, die Sachlage also komplex.“ und „ausgehend von den bei Verabschiedung des Gesetzes vorhandenen Erkenntnissen zur Übertragbarkeit des Virus und zu den Möglichkeiten, seiner Verbreitung zu begegnen“, sei „verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber davon ausging, dass keine sicher gleich wirksamen, aber die betroffenen Grundrechte weniger stark einschränkenden Mittel zur Verfügung standen.“

d) Die Nachweispflicht sei „auf der Grundlage der zum maßgeblichen Zeitpunkt der Verabschiedung des Gesetzes verfügbaren Erkenntnisse auch verhältnismäßig im engeren Sinne.“ Danach habe der Gesetzgeber berücksichtigen müssen, „dass die zur Erfüllung der Nachweispflicht erforderliche Impfung einen erheblichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit darstellt.“

Zwar sei insoweit „unter anderem relativierend zu berücksichtigen, dass § 20a IfSG keinen gegebenenfalls hoheitlich durchsetzbaren Impfzwang begründet, sondern den in den Einrichtungen und Unternehmen tätigen Personen letztlich die Entscheidung überlässt, den erforderlichen Nachweis zu erbringen.“ Die Regelung stelle die Betroffenen „aber de facto vor die Wahl, entweder ihre bisherige Tätigkeit aufzugeben oder aber in die Beeinträchtigung ihrer körperlichen Integrität einzuwilligen.“

Insoweit sei „regelmäßig auch die Berufsfreiheit“ (Art. 12 GG) der im Gesundheits- und Pflegebereich Tätigen betroffen. Dem Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der Betroffenen seien „jedoch Verfassungsgüter mit überragendem Stellenwert gegenüberzustellen.“

Es obliege dem Gesetzgeber, sich in Erfüllung seiner ebenfalls aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG folgenden Schutzverpflichtung „schützend vor das Leben und die körperliche Unversehrtheit zu stellen.“ Die „den Gesetzgeber treffende Schutzverpflichtung gegenüber vulnerablen Personen“ habe sich Anfang Dezember 2021 „verdichtet“.

Es beruhe auf einer „verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Abwägung, dass der Gesetzgeber dem Schutz vulnerabler Menschen den Vorrang vor einer in jeder Hinsicht freien Impfentscheidung“ gegeben habe. „Trotz der hohen Eingriffsintensität“ müssten die „grundrechtlich geschützten Interessen der im Gesundheits- und Pflegebereich Tätigen letztlich zurücktreten.“

„Aus verfassungsrechtlicher Sicht unzumutbare Gesundheitsrisiken, die selbst bei einer akuten Gefährdungslage zu Lasten vulnerabler Personen nicht mehr zu rechtfertigen wären“, würden „den betroffenen Normadressaten nicht auferlegt.“ Denn „schwerwiegende Nebenwirkungen oder gravierende Folgen, die über die durch die Verabreichung des Impfstoffs induzierte Immunantwort hinausgehen“, seien „sehr selten.“

„In die Abwägung“ sei „maßgebend aber auch die besondere Schutzbedürftigkeit derjenigen einzustellen, deren Schutz der Gesetzgeber beabsichtigt.“

Die „weitere Entwicklung des Pandemiegeschehens nach Verabschiedung des Gesetzes“ begründe „keine abweichende Beurteilung.“ Es habe „keine neuen Entwicklungen oder besseren Erkenntnisse“ gegeben, „die geeignet wären, die ursprünglichen Annahmen des Gesetzgebers durchgreifend zu erschüttern.“

II. Auch die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG sei nicht verletzt. Der Zweck, Vulnerable vor einer schwerwiegenden oder sogar tödlich verlaufenden COVID-19-Erkrankung zu schützen, sei ein „besonders gewichtiger Belang von Verfassungsrang.“

C. Kritische Auseinandersetzung

Beide BVerfG-Entscheidungen, bereits die Eilentscheidung, erst recht die Hauptsache-Entscheidung, sind offensichtlich unvertretbar.

Eilt dem BVerfG -angesichts jahrzehntelangen Rechtsprechungsstandard zu Recht und für die meisten Fälle zutreffend- der Ruf voraus, seine Entscheidungen besonders ausgewogen und fachlich wie juristisch fundiert zu treffen, so hat das Gericht diesen Standard hier eklatant unterlaufen.

Schon im Ansatz verfehlt ist der sich durch beide Entscheidungen wie ein roter Faden ziehende Grundansatz, den Schutz von Leib und Leben der einen Gruppe (der Vulnerablen) über denjenigen der anderen Gruppe (Einrichtungs-Beschäftigte) zu stellen.

Es geht verfassungsrechtlich nicht an, dass eine Gruppe durch Eingehung eines wie auch immer sich qualitativ und quantitativ ausgestaltenden Gesundheits- und Todesrisikos -noch dazu gegen ihren Willen- die andere Gruppe -und das auch nur vermeintlich- schützen soll, und dies, obwohl durch Masken und Tests bereits ein gutes Schutzniveau gewährleistet ist bzw. nachgesteuert werden kann.

Angesichts „fehlender robuster Zahlen“, wie das BVerfG die von ihm angehörten Fachgesellschaften zitiert, dies alles noch verschärft durch den Regimewechsel von Delta Ende 2021 zu Omikron Anfang 2022 und die dadurch bedingten Unwägbarkeiten, hatte das BVerfG auch keine tragfähige Grundlage für seine folgenschwere Entscheidung.

Dies gilt umso mehr, als das BVerfG den Wirksamkeitsverlust der Impfstoffe herausarbeitet und das RKI zitiert, „in Bezug auf künftige Varianten sei keine evidenzbasierte Aussage möglich“.

Auch fehlt jede ausreichende Auseinandersetzung mit milderen Alternativen, was notwendig eine eingehende Evaluierung zunächst der Standard-Corona-Schutzmaßnahmen und, in Relation hierzu, der Ermittlung eines evtl. signifikanten Zusatz-Nutzen der Impfpflicht erfordert hätte.

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass FFP2-Masken nach Erkenntnissen, die gerade zum Zeitpunkt der Gesetzesverabschiedung im Dezember 2021 publik wurden, offenbar aber in das Gesetzgebungsverfahren keinen (adäquaten) Eingang gefunden haben, dem Max-Planck-Institut zufolge das Infektionsrisiko drastisch minimieren, Tagesschau-Bericht vom 04.12.2021, vgl.

https://www.tagesschau.de/inland/corona-ffp-masken-101.html

Genauso wenig, wie die Ignoranz der Masken-Potenzialausschöpfung durch den Gesetzgeber und BVerfG nachvollziehbar ist, kann nachvollzogen werden, dass mit der Änderung des IfSG, mit der die Impfpflicht beschlossen wurde, die Testanzahl für geimpftes Praxispersonal auf zwei Antigen-Tests pro Woche beschränkt wurde, während die Tests eine probate Risikoverminderung darstellen, vgl.

https://www.kbv.de/html/1150_55877.php

Sehr grundlegend ist, was die wissenschaftliche Erkenntnislage zur Gefährdungsentwicklung für Vulnerable einerseits und zu Impfrisiken andererseits angeht, zu beanstanden, dass von Fachkritikern gerügte methodische Erhebungsfehler des PEI und RKI fortgeschrieben werden, indem die Bewertungen des Gesetzgebers unter Missachtung des Vorsorgeprinzip nicht evidenzbasiert zustandegekommen sind, insbesondere fachkritische Wissenschaftler unzureichend einbezogen wurden, insbesondere keine angemessener Hinterfragung der inzidenz-fixierten Risikoermittlung des Infektionsgeschehen sowie der Erfassungsweise von Impf-Folgeschäden erfolgt ist.

Hierbei geht es, entgegen vielfacher medialer Verzerrung, oftmals um fundierte wissenschaftliche Kritik wie zB von Wodarg, der auf seiner Netzseite eingehend -und „laienverständlich“- über die in der breiten Öffentlichkeit in Ausmaß und Tragweite unbekannten Risikopotenziale der Corona-Impfungen informiert und diese für unkalkulierbar bzw. zu hoch erachtet, vgl.

https://www.wodarg.com/impfen/

Nach dem Vorsorgeprinzip und darin enthaltenem Gebot der Einholung „bestmöglicher Expertise“ leidet die Hauptsache-Entscheidung des BVerfG unter dem kardinalen Verfahrensfehler, dass die Stellungnahmen der Fachgesellschaften, die eine strukturelle personelle Unterbesetzung des Fachkritiker-Lagers aufweisen, ausweislich der Entscheidungsbegründung bis 2. Februar 2022, damit zur Vorbereitung des Eilbeschlusses eingeholt wurden, aber soweit ersichtlich keine Aktualisierung vor dem Hauptsache-Beschluss erfolgte, so dass sie -schon wegen der vom BVerfG selbst betonten Entwicklungsdynamik der Pandemie- ca. zweieinhalb bis drei Monate später bereits offensichtlich veraltet waren und das BVerfG hierauf keine fachlich fundierte Entscheidung (mehr) treffen konnte.

Erst recht gilt dies, soweit die BVerfG-Entscheidungen auf die Erkenntnislage zum Zeitpunkt der Gesetzesverabschiedung im Dezember 2021 abstellen.

Das BVerfG hätte eine Aktualisierung der Erkenntnislage und eine hierauf basierte Anpassung des Gesetzes verlangen müssen, was auf die Einholung eines Obergutachten hätte hinauslaufen müssen – oder ohne solches – „im Lichte der Freiheit“ des Grundrechts- auf Nichtigerklärung des Gesetzes.

Beide BVerfG-Beschlüsse beruhen maßgeblich auf der Annahme eines relevanten Fremdschutzes der Corona-Impfungen, nämlich des Schutzes Vulnerabler in den betroffenen Einrichtungen durch die Impfung der Beschäftigten, deren körperliches Integritätsinteresse hintanstehen müsse.

Diese maßgebliche ursprüngliche Grundannahme solchen Fremdschutzes hat das gemäß § 4 IfSG hierzu berufene Robert-Koch-Institut (RKI) -vom BVerfG in seiner nunmehrigen Entscheidung völlig ignoriert, ca. Ende Februar 2022, also nach Ergehen des Eilbeschlusses, gestrichen.

Prof. Radbruch, einer der führenden deutschen Immunologen, bestätigte am 21. März 2022 in seiner Anhörung im Gesundheitsausschuss des Bundestags, als es um die avisierte allgemeine Impfflicht ging, und im Cicero-Interview „Das Risiko-Nutzen-Profil verschiebt sich in eine ungünstige Richtung“ im Ergebnis, ein Fremdschutz sei mit den verfügbaren Impfstoffen nicht erreichbar, vgl.

https://www.cicero.de/innenpolitik/debatte-um-impfpflicht-andreas-radbruch-immunsystem-booster-corona

Soweit das BVerfG in seinen Bundes-Notbremse-Entscheidungen vom 19.11.2021 - 1 BvR 971/21 und 1 BvR 1069/21 – die Verpflichtung des Gesetzgebers betont hatte, die weitere Entwicklung zu beobachten und das Gesetz nachzubessern, „falls zu befürchten ist, dass die Maßnahme wegen veränderter tatsächlicher Bedingungen oder einer veränderten Erkenntnislage in die Verfassungswidrigkeit hineinwächst“, hätte das BVerfG diese gesetzgeberische Verpflichtung ebenso hier einfordern und letztlich die Pflege-Impfpflicht verfassungswidrig erklären müssen.

Eklatant verkannt wurde auch: Eine Gefährdung des öffentlichen Gesundheitssytems und damit einhergehend eine erhöhte Gefährdung des Gesundheitsschutzes Vulnerabler steht greifbar zu befürchten, wenn die Beschäftigten zur Vorlage des Impfnachweis durch Androhung von Bußgeld und/oder Tätigkeitsverbot gezwungen werden und, vor diese „Wahl“ gestellt, oftmals ihre Beschäftigung aufgeben, wo bereits jetzt drastischer Personalmangel herrscht, vgl.

https://www.rbb24.de/panorama/thema/corona/beitraege/2022/03/pflegedienst-einrichtungsbezogene-impfpflicht-berlin-interview.html

Das angefochtene Impfpflicht-Gesetz ist aus Sicht des Verfassers, ganz abgesehen von der Frage seines von Anbeginn zweifelhaften und -mit Ablösung von Delta durch Omikron- immer deutlicher fehlenden medizinischen Nutzen offensichtlich verfassungswidrig.

Es ist daher erschreckend anzusehen, dass dieses Gesetz nicht nur die notwendigen Mehrheiten sich „demokratisch“ rühmender Parteien in Bundestag und Bundesrat und die Ausfertigung durch den Bundespräsidenten mühelos erhalten hat, sondern es auch vom BVerfG als Wächter der Verfassung „abgesegnet“ wurde.

D. Verbleibende Rechtsbehelfsmöglichkeiten

Angesichts dieser verfassungsrechtlich desolaten Situation stellt sich die Frage, was Betroffene nun noch „unternehmen“ können.

Zunächst kann gegen jeden Bußgeldbescheid, zum Teil werden derzeit 1.000 Euro Bußgeld bereits bei Erstverstoß verhängt, vgl.

https://www.aachener-nachrichten.de/nrw-region/staedte-verhaengen-bussen-fuer-ungeimpfte_aid-70436915

binnen zwei Wochen ab Bescheidzustellung schriftlich Einspruch bei der erlassenden Behörde eingelegt werden. Das Bußgeld ist für die Dauer das Einspruchsverfahrens nicht vollstreckbar. In nachfolgendem Gerichtsverfahren wäre dann zu beantragen, das Gericht möge die Frage der Verfassungswidrigkeit des § 20a IfSG gemäß Art. 100 GG (erneut) dem BVerfG vorlegen, wobei wegen der Infektionsdynamik auf die gegenüber der nunmehrigen Entscheidung veränderte Tatsachenlage zu verweisen wäre. Mindestens würden die Betroffenen hierdurch „Zeit gewinnen“.

Da die betroffenen Grundrechte in dieser bzw ähnlicher Ausprägung auch Gegenstand der EU-Grundrechtecharta (zB Artikel 3 GRCh) und der Europäischen Menschenrechtskonvention (Artikel 8 EMRK) sind, kommen daneben auch Klage bzw. Beschwerde zum Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg bzw. zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg in Betracht. Da auch diese Verfahren fristgebunden sind, sollte ggfs. schnellstmöglich fachkundiger anwaltlicher Rat eingeholt werden.

Olaf Möhring, Fachanwalt für Verwaltungsrecht, Mönchengladbach / NRW



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