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Missbrauch von Kindern und Jugendlichen

  • 10 Minuten Lesezeit
Esther Wellhöfer anwalt.de-Redaktion

Immer wieder dringen neue Fälle über den sexuellen Missbrauch von Kindern an die Öffentlichkeit. Die schlimmste Form dieser Straftat zeigt sich, wenn Kinder entführt, missbraucht und vielleicht sogar getötet werden. Doch in der Realität sind die Fälle, in denen ein Fremder der Täter ist, eher die Ausnahme. Bei etwa drei Vierteln handelt es sich um Mitglieder der Familie, Freunde, Verwandte und auch besondere Vertrauenspersonen der Kinder, zum Beispiel Lehrer, Erzieher oder Trainer. Die Redaktion von anwalt.de zeigt, wie Eltern vorbeugen können, woran sexueller Missbrauch erkannt werden kann und wie man als Erwachsener richtig reagiert, wenn man davon erfährt.

[image]Erster Erfahrungsbericht der Anlaufstelle

Erst seit April 2010 haben Opfer von Kindesmissbrauch die Möglichkeit, sich an die Unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs zu wenden. Nun hat sie erste Zwischenergebnisse bekannt gegeben. Mehr als 1000 Meldungen über sexuelle Übergriffe sind bislang bei ihr eingegangen. Zwei Drittel der Missbrauchsfälle haben in Institutionen stattgefunden, ein Drittel der Betroffenen berichtet von Missbrauch im Familien- und Bekanntenkreis. Mehr als 60 Prozent der Anrufer haben sich zuvor niemandem anvertraut, an die 90 Prozent wurden wiederholt oder mehrfach Opfer sexueller Gewalt. Die Altersstruktur der Anrufer reicht von 17 Jahren bis zu 79 Jahren, das Durchschnittsalter beträgt 50 Jahre.

Die Zahlen sind erschreckend und offenbaren eine wahre Flut von Meldungen sexuellen Missbrauchs an Kindern. Als immer mehr Fälle sexueller Gewalt, gerade in Institutionen, an die Öffentlichkeit drangen, sahen sich viele Opfer oftmals nach Jahrzehnten mit ihrem Missbrauch erneut konfrontiert. Gerade bei Kindesmissbrauch entwickeln die Opfer oft einen psychischen Schutzmechanismus und verdrängen das Geschehene. Oder sie sind derart traumatisiert, dass sie erst nach Jahren dazu fähig sind, über die Tat zu sprechen und Anzeige zu erstatten. Hier kann die Berichterstattung der Auslöser sein, der die verdrängte Tat wieder in das Bewusstsein des Opfers rückt und die Erinnerung hochkommen lässt.

Verjährungsfristen in der Kritik

Da Opfer die Tat oft jahrelang verdrängen oder schon allein wegen ihres Reifezustandes erst Jahre später auf den Missbrauch angemessen reagieren können, sind die Verjährungsfristen bei Kindesmissbrauch wieder in die Kritik geraten. Zwar hat man 1994 die Verjährung beim Kindesmissbrauch nicht wie zuvor an den Zeitpunkt der Begehung der Tat, sondern an das Erreichen des Erwachsenenalters geknüpft. Derzeit beträgt die Verjährungsfrist bei der Grundstraftat des Kindesmissbrauchs zehn Jahre, beim schweren sexuellen Missbrauch zwanzig Jahre nach Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers. Hier beginnt die Verjährungsfrist also nicht mit der Tatbegehung, sondern in dem Zeitpunkt der Volljährigkeit des Opfers. Aber viele der nun bekannt gewordenen Missbrauchsfälle sind inzwischen verjährt. Kritiker fordern deshalb in diesen Fällen die Ausweitung der Verjährung auf dreißig Jahre. Das Justizministerium ist allerdings dagegen und wendet ein, dass nach dieser langen Zeitspanne die Taten nur schwer und selten aufgeklärt werden können. Durch die erschwerte Beweisführung kann es dann häufig nicht zu einer Strafverurteilung des Täters kommen. Und dies würde für die Opfer eine enorme psychische Belastung bedeuten.

Form der sexuellen Gewalt

Das Strafgesetzbuch (StGB) enthält spezielle Strafregeln für den sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Aus juristischer Sicht geht es um einen speziellen Fall der Kindesmisshandlung, um sexuelle Gewalt. Für Kinder bis zum 14. Lebensjahr stellen §§ 176ff. StGB sexuellen Missbrauch und Vergewaltigung unter Strafe. Kinder und Jugendliche zwischen dem 14. und 18. Lebensjahr stehen ebenfalls unter dem Schutz des Gesetzes, sexuelle Handlungen ihnen gegenüber sind gemäß § 174 und § 177 StGB strafbar. Ein Erwachsener oder Jugendlicher übt sexuelle Gewalt aus, wenn er zur Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse und zur Machtausübung seine Autorität, körperliche und geistige Überlegenheit und die Unwissenheit, die Abhängigkeit und das Vertrauen ausnutzt.

Ein Kind - oder ein Jugendlicher - wird sexuell missbraucht, wenn der Täter es beispielsweise zur eigenen sexuellen Erregung anfasst, es zwingt, ihn anzufassen, es für pornografische Zwecke benutzt, es mit obszönen Reden belästigt. Die schlimmste Form ist die Vergewaltigung, also wenn das Kind zum Geschlechtsverkehr gezwungen wird. Die Hauptmotivation des Täters ist nicht immer die sexuelle Befriedigung. In vielen Fällen spielen Macht und psychische Gewalt eine entscheidende Rolle. Dem Täter geht es um die Ausnutzung seiner Macht und das Gefühl, dem Opfer überlegen zu sein.

Typische Missbrauchssituationen

Sexueller Missbrauch kann in vielen Formen auftreten und zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten. Selten wird er von einem völlig fremden Täter verübt. In den meisten Fällen hat der Täter eine enge soziale Bindung zu dem Opfer, oft kommt er sogar aus der eigenen Familie. Aber auch bei außerfamiliären Näheverhältnissen kann Kindesmissbrauch stattfinden. Das haben die vielen, in letzter Zeit ans Tageslicht gekommenen Missbrauchsfälle in Institutionen gezeigt. Sexueller Missbrauch kann in Heimen, Internaten, Schulen, Ausbildungsbetrieben und anderen Einrichtungen vorkommen. Denn Lehrer, Erzieher und andere Vertrauenspersonen genießen gegenüber ihren Schützlingen eine besondere Stellung. In solchen Obhutsverhältnissen spielt der Täter seine Vormachtstellung aus und kann so das Kind manipulieren und missbrauchen.

Schon ein einziger sexueller Übergriff hat für die Opfer verheerende Auswirkungen. Sie leiden häufig sogar ein Leben lang unter den Folgen. Umso schlimmer ist, dass es in den meisten Fällen von Kindesmissbrauch nicht bei dem einen Mal bleibt. Das zeigt ein Fall, den kürzlich der Bundesgerichtshof zu entscheiden hatte. Ein Leichtathletiktrainer war vom Landgericht München II wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in insgesamt 215 Fällen und wegen sexueller Misshandlung Schutzbefohlener in 82 Fällen verurteilt worden. Die Missbrauchsfälle ereigneten sich im Zeitraum von 1990 bis zum Jahr 2008. Auch dass sich sexueller Missbrauch über Jahre erstreckt, ist für diese Straftat kennzeichnend. Die Karlsruher Richter bestätigten die Rechtskraf des Strafurteils, das eine Freiheitsstrafe von acht Jahren und anschließend die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung anordnete (Urteil v. 11.05.2010, Az.: 1 StR 188/10).

Selbstbewusstsein zur Vorbeugung

Was können Eltern und Erziehungsberechtigte tun, damit ihr Kind nicht Opfer sexueller Gewalt wird? Niemand ist hundertprozentig davor sicher, Opfer einer Straftat zu werden. Bei Kindesmissbrauch zeigen die Täter jedoch gewisse Verhaltensmuster, die auf mögliche vorbeugende Maßnahmen verweisen. Meist suchen sich die Täter Kinder aus, die eine gewisse Schwäche signalisieren. Denn es geht ihnen um Macht. Kinder, die selbstbewusst auftreten und sich auch gegenüber Erwachsenen behaupten, werden selten Opfer sexueller Gewalt. Eltern sind also gut beraten, wenn sie das Selbstbewusstsein ihres Kindes fördern. Das gilt besonders gegenüber Erwachsenen und gegenüber sog. Respektspersonen. Ein Kind sollte immer wissen, dass es auch ihnen gegenüber Rechte hat und sich nichts gefallen lassen muss.

Wenn man an die schrecklichen Folgen von sexuellem Missbrauch denkt, neigen vielleicht einige Eltern dazu, zum Schutz ihres Kindes sexuelle Aspekte in der Erziehung am besten völlig auszublenden. Doch dieser Erziehungsansatz birgt erhebliche Nachteile in sich. Denn nur wenn das Kind gewisse Kenntnisse über dieses Thema hat, kann es Übergriffe als solche einordnen. Daher sollten Kinder ihrem Alter entsprechend auch in ihrer sexuellen Entwicklung begleitet und für Gefahren sensibilisiert werden. Nur so können sie eine gefährliche Situation erkennen und darauf reagieren. Wichtig ist dabei auch, dass man dem Kind ein Recht auf seine Intimität zugesteht. Das sollte auch gegenüber Familienmitgliedern und Freunden gelten. Wenn ein Kind zum Beispiel der Oma keinen Kuss geben will, sollten die Eltern das akzeptieren. Das Wichtigste ist, dass man das Selbstvertrauen des Kindes stärkt und ihm immer vermittelt, dass man auf seiner Seite steht.

Auf den Ernstfall vorbereiten

Gegen Übergriffe von Fremden kann man sein Kind ebenfalls wappnen. Auf dem Schulweg kann man beispielsweise das richtige Verhalten trainieren, wenn das Kind in eine bedrohliche Lage gerät. Eine Gruppe bietet einen gewissen Schutz. Daher sollten Sie Ihr Kind zusammen mit mehreren Kindern zur Schule oder zum Spielplatz gehen lassen. Schauen Sie sich den Schulweg an und zeigen Sie Ihrem Kind Läden, Restaurants und andere Orte, an denen viele Menschen unterwegs sind, oder Häuser, bei denen es notfalls klingeln kann. Machen Sie ihrem Kind klar, wie es sich bemerkbar machen kann. Vermitteln Sie dem Kind, dass es im Notfall Erwachsene ansprechen darf und laut um Hilfe schreien soll, wenn es in Gefahr gerät.

Droht ein sexueller Übergriff, gibt es für ein Kind nur einen Ausweg: weglaufen. Und zwar dahin, wo es hell ist und Menschen sind, die helfen können. Diese Abläufe und Situationen sollten mit dem Kind durchgesprochen und trainiert werden. Im Familienalltag können Eltern ebenso etwas zur Prävention tun. Wichtig ist, dass man seine gute Vertrauensbeziehung zum Kind hegt und pflegt. Es sollte sich absolut sicher sein, dass es mit den Eltern über alles sprechen kann und jemanden hat, der ihm immer hilft, es unterstützt und hinter ihm steht. Vielleicht mag es manch einem Erwachsenen kleinlich vorkommen. Aber auch die Erziehung zur Pünktlichkeit kann sich als hilfreich erweisen, da beispielsweise Entführungen so schneller bemerkt werden können.

Anzeichen für Missbrauch

Oberste Pflicht für jeden Erwachsenen ist, sexuellen Missbrauch an Kindern zu verhindern oder zumindest sofort weitere Missbrauchsfälle zu unterbinden. Damit zeigt sich ein weiteres Problem, nämlich wie man sexuellen Missbrauch möglichst frühzeitig erkennen kann. Schildert ein Kind spontan einen sexuellen Übergriff, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass ein Missbrauch stattgefunden hat. Doch leider scheuen sich die Opfer oft, direkt über die Straftat zu sprechen. Deshalb sollte man auf gewisse Anzeichen achten, die auf Missbrauch hindeuten. Das sind zunächst körperliche Verletzungen, wie beispielsweise Blutergüsse, Bisswunden oder Unterleibs- und Genitalverletzungen. Aber nicht immer wird sexuelle Gewalt anhand von Verletzungen sichtbar. Werden Kinder oder Jugendliche Opfer sexueller Gewalt, können sie sich meist nur schwer mitteilen. Hinzu kommt, dass der Täter möglicherweise Druck auf das Kind ausübt und ihm mit weiterer Gewalt droht, falls es sich jemandem anvertraut. Zudem schämen sich Kinder oft, über den sexuellen Übergriff zu reden. Die Schuld wird ihnen vom Täter suggeriert oder sie geben sich selbst die Schuld an dem Vorfall. Jeder weiß, dass das Kind niemals Schuld an dem Missbrauch hat. Das Kind ist das Opfer.

Weil es für Kinder schwer ist, über den Missbrauch zu reden, können Eltern und erwachsene Vertrauenspersonen sexuellen Missbrauch häufig nur an gewissen Verhaltensmerkmalen erkennen. Opfer sexuellen Missbrauchs verhalten sich zum Beispiel plötzlich auffallend ängstlich, ziehen sich von ihrer Umwelt zurück, werden aggressiv, unterwürfig, launisch, wollen vermeiden, mit einer bestimmten Person allein zu sein oder fallen in der schulischen Leistung rapide ab. Schlafstörungen, Bettnässen, Sprachstörungen, Bauchschmerzen oder ständiges Kranksein sind ebenfalls Hinweise. Ältere Kinder und Jugendliche reagieren auf Missbrauch, indem sie Drogen- oder Diebstahldelikte begehen. Das Problem bei allen diesen Merkmalen ist allerdings, dass sie ebenso auf andere Probleme des Kindes zurückzuführen sein können.

Beratungsstelle einschalten

Wenn es Anzeichen auf einen Missbrauch gibt, ist rasches Handeln und gleichzeitig viel Fingerspitzengefühl gefragt. Wichtig ist, Ruhe zu bewahren, auch wenn der Schrecken noch so groß ist. Das fällt in Anbetracht der Tat gewiss nicht leicht, ist aber dringend notwendig, damit dem Opfer geholfen werden kann. Zeigen Sie dem Kind, dass Sie ihm glauben, und vermeiden Sie Suggestivfragen (z. B.: Hat er dich da berührt?), da sie sich nachteilig auf die Glaubwürdigkeit des Kindes auswirken können. Wenden Sie sich umgehend an Experten. Sie sind auf solche Fälle spezialisiert und psychologisch geschult. Man sollte deshalb so früh wie möglich Experten einbeziehen, eine Beratungsstelle kontaktieren und die Polizei einschalten. Oder man wendet sich an die bundesweite, unabhängige und kostenfreie Beratungshotline unter 0800 - 22 55 530.

Gerade wenn der Kindesmissbrauch im familiären Umfeld stattgefunden hat, ist die Hemmschwelle zur Anzeigenerstattung hoch. Aber man darf nicht vergessen, dass es jetzt vor allem darum geht, weiteren Schaden vom Kind abzuwenden. Wer tatenlos zuschaut und Kindesmissbrauch toleriert, der kann sich wegen Beihilfe strafbar machen. Die Berater können auch dazu nähere Informationen geben, wie Sie nun am besten reagieren und was Sie tun sollten. Gerade in Hinblick auf den Anspruch auf Opferentschädigung ist es dringend zu empfehlen, eine Anzeige zu erstatten. Denn dies wird bei einigen Straftaten vorausgesetzt. Außerdem ist auch die Einschaltung eines Rechtsanwalts ratsam. Er kann Ihnen sagen, welche rechtlichen Möglichkeiten das Opfer hat, wie es sich als Nebenkläger am Strafverfahren beteiligen und wie die Aussage des Kindes vonstattengehen kann, welche Vorteile ein sog. Täter-Opfer-Ausgleich bietet und schließlich auch, welche zivilrechtlichen Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche bestehen.

(WEL)

Foto(s): ©iStockphoto.com

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