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Wohnsitzfiktion – Kindergeld für im EU-Ausland lebende Familienangehörige

  • 4 Minuten Lesezeit
Gabriele Weintz anwalt.de-Redaktion

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Einen Anspruch auf Kindergeld hat nach deutschem Recht derjenige Elternteil, bei dem das Kind wohnt. Bisher war fraglich, ob und wie diese Regelung für Sachverhalte mit Auslandsbezug anzuwenden ist. In zwei aktuell entschiedenen Fällen hat der Bundesfinanzhof (BFH) wichtige Urteile gesprochen, in denen es um genau diese Problematik ging.

Mutter und Sohn wohnen in Polen

Im ersten entschiedenen Fall vor dem BFH ging es um einen deutschen Vater, der in Deutschland lebt und bei der zuständigen Familienkasse Kindergeld für seinen Sohn beantragt hat. Der Junge lebt jedoch nach der Scheidung der Eltern mit seiner polnischen Mutter in einem Haushalt in Polen. Nach polnischem Recht hat die Frau keinen Anspruch auf polnische Familienleistungen. Einen Antrag auf Familienleistungen nach deutschem oder polnischem Recht hatte sie ferner nicht gestellt.
Den Antrag des Mannes auf Zahlung des Kindergeldes lehnte die Familienkasse ab. Sie begründete dies damit, dass die Kindsmutter vorrangig zum Bezug von Kindergeld nach dem deutschen Recht berechtigt sei.

Klage vor dem Finanzgericht (FG) Düsseldorf

Der Mann klagte daraufhin vor dem FG und hatte zunächst Erfolg. Die Richter verurteilten die Familienkasse zur Zahlung von Kindergeld an den Vater.
Sie waren der Ansicht, dass die Kindsmutter nicht die Anspruchsvoraussetzungen zur Bestimmung des Kindergeldberechtigten nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG erfüllt, weil sie weder ihren Wohnsitz noch ihren gewöhnlicher Aufenthalt im Inland hat. Außerdem gelte Art. 60 Abs. 1 S. 2 der Verordnung (VO) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments in diesem Fall nicht, da ein Anspruch des in Deutschland lebenden Vaters auf Familienleistungen nicht begrenzt oder ausgeschlossen werden darf.

Familienkasse erhebt Revision

Gegen dieses Urteil erhob die Familienkasse Revision vor dem BFH. Dieser setzte das Revisionsverfahren zunächst aus und legte diesen Fall aufgrund der Verbindung zum Unionsrecht dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) zur Vorabentscheidung vor.
Die Richter des EuGH führten in ihrer Entscheidung aus, dass die in Art. 60 Abs. 1 S. 2 VO Nr. 987/2009 geregelte Wohnsitzfiktion dazu führen kann, dass der nach nationalem Recht gegebene Kindergeldanspruch auch einer in einem anderen EU-Mitgliedstaat wohnenden Person zustehen kann, hier der in Polen lebenden Mutter. Unerheblich ist jedoch, ob diese Person einen Antrag auf deutsche Familienleistungen gestellt hat oder nicht (EuGH, Urteil v. 22.10.2015, Az.: C-378/14, Rechtssache Trapkowski).

BFH fingiert Wohnsitz in Deutschland

Nach dem Urteil des EuGH konnte schließlich auch der BFH entscheiden. Er stellte fest:

Durch die sog. Wohnsitzfiktion i. S. d. Art. 60 Abs. 1 S. 2 VO Nr. 987/2009 wird die Wohnsituation der gesamten Familie so behandelt, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsordnung des Mitgliedstaats fallen, in dem die Familienleistungen beantragt werden, und fingiert, dass sie dort wohnen. Das bedeutet im vorliegenden Fall, dass die geschiedene Ehefrau so behandelt wird, als ob sie in Deutschland lebt.

Zu den beteiligten Personen im Hinblick auf das Kindergeld gehören nach dem Urteil des EuGH alle Familienangehörigen, d. h. meist die Eltern und auch alle weiteren Personen, die berechtigt sind, einen Antrag auf Familienleistungen zu stellen. Nachdem im deutschen Kindergeldrecht nicht geregelt ist, dass Eltern miteinander verheiratet sein müssen, gehören auch beide geschiedenen Elternteile zu den Familienangehörigen. Aus diesem Grund ist die geschiedene Frau und polnische Mutter des Kindes kindergeldberechtigt.

Da das Kindergeld gem. § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG an denjenigen ausgezahlt wird, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat, steht der Frau der Anspruch auf Kindergeld zu und nicht dem Mann. Daran ändert sich auch nichts, dass sie im EU-Ausland lebt und gar keinen Antrag auf deutsches Kindergeld gestellt hat.

Inhaltsgleiche Entscheidung für Großeltern

In einem ähnlich gelagerten Fall erließen die Richter des BFH ein inhaltsgleiches Urteil. Die beiden Töchter eines in Deutschland lebenden Vaters lebten im Haushalt ihrer Großmutter in Griechenland. Da Großeltern auch zu den Familienangehörigen zählen, kann der Anspruch auf Kindergeld auch einem Großelternteil zustehen, der Enkel in seinen Haushalt aufgenommen hat. In diesem Fall hat der BFH fingiert, dass die Großmutter mit ihren beiden Enkelinnen in Deutschland leben würde. Aus diesem Grund hat sie Anspruch auf das Kindergeld und nicht der in Deutschland lebende Vater (BFH, Urteil v. 10.03.2016, Az.: III R 62/12).

Fazit: Durch das vorgehende EuGH-Urteil und die beiden Urteile des BFH ist nun endlich die Problematik geklärt, wer in Fällen mit Bezug zum EU-Ausland Anspruch auf Kindergeld hat – nämlich der Familienangehörige, der das Kind bzw. die Kinder in seinen Haushalt aufgenommen hat. Dies gilt unabhängig davon, wo der betreuende Familienangehörige in der EU lebt und ob überhaupt ein Antrag auf Auszahlung von Kindergeld gestellt worden ist.

(BFH, Urteil v. 04.02.2016, Az.: III R 17/13)

(WEI)

Foto(s): ©iStockphoto.com

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