DNA – Identitätsfeststellungsverfahren beim versuchten Totschlag

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Landgericht Hamburg, Beschluss vom 30. März 2011, Aktenzeichen: 604 Ks 26/10. In diesem Verfahren wegen des Verdachts des versuchten Totschlages gegen meinen Mandanten war Jugendstrafrecht anzuwenden. Das Landgericht Hamburg, Große Strafkammer 4 - als Jugendkammer hatte am 30. März 2011 beschlossen:

„Der Antrag der Staatsanwaltschaft, zum Zwecke der Identitätsfeststellung in künftigen Strafverfahren die körperliche Untersuchung des Betroffenen zur Entnahme einer für eine molekulargenetische Untersuchung geeigneten Blut- oder Speichelprobe sowie deren molekulargenetische Untersuchung zur Feststellung eines DNA-Identifizierungsmusters und dessen Einstellung in die DNA-Analysedatei anzuordnen, wird abgelehnt.

Gründe:

Der Antrag ist nicht begründet, da die Voraussetzungen für die Anordnung der Entnahme und molekulargenetische Untersuchung von Körperzellen des Betroffenen gem. § 81g Abs. 1 StPO nicht vorliegen. Zwar ist der Betroffene durch Urteil der Kammer vom 21. Dezember 2010 - nicht rechtskräftig - wegen versuchten Totschlags zu einer Jugendstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten verurteilt worden und damit einer Straftat von erheblicher Bedeutung verdächtig. Nach § 81g Abs. 1 StPO ist aber weiter erforderlich, dass wegen der Art oder Ausführung der Tat, der Persönlichkeit des Betroffenen oder sonstiger Erkenntnisse Grund zu der Annahme besteht, dass gegen ihn künftig Strafverfahren wegen einer Straftat von erheblicher Bedeutung zu führen sind. Zu berücksichtigen sind für diese Negativprognose nicht nur die Anlasstat, sondern auch die kriminelle Vorgeschichte des Betroffenen, seine Lebensumstände sowie die Motivationslage bei der Anlasstat (vgl. KK-Senge, StPO, 6. Aufl., Rz. 10 zu § 81 g). Im Lichte der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ist bei Jugendlichen und Heranwachsenden besonders sorgfältig zu prüfen, ob es sich bei den abgeurteilten Delikten nicht lediglich um eine jugendtypische, episodenhafte Delinquenz gehandelt hat, die keine Negativprognose rechtfertigt. Dies ergibt sich daraus, dass in der Adoleszenz anlässlich des natürlichen Selbstfindungsprozesses erhebliche Integrations - und Anpassungskonflikte bestehen können und diese sich vielfach in Verhaltensunsicherheit und gesteigertem Abweichungspotential ausdrücken (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.9.2007 - 2 BvR 2577/06, zitiert nach Juris.). Im vorliegenden Fall sind nach den Urteilsfeststellungen aus der Anlasstat noch keine schädlichen Neigungen des Betroffenen abzuleiten, vielmehr hat es sich nicht ausschließbar um ein situatives Versagen gehandelt. Der Betroffene ist bisher vollkommen unbestraft. Er muss zwar lernen, auf Konfliktsituationen und empfundenes Unrecht angemessen zu reagieren. Deshalb kam es auch in der Vergangenheit zu Verhaltensauffälligkeiten, wegen denen seine Schule die Teilnahme an einem Antiaggressionstraining für erforderlich hielt. Nach den überzeugenden Ausführungen des psychiatrischen Sachverständigen Dr. B. sind jedoch bei dem Betroffenen noch in größerem Ausmaß Entwicklungskräfte wirksam. Er hat in der Vergangenheit und auch zum Tatzeitpunkt noch ein sehr jugendtypisches Verhalten gezeigt. Eine Nachreifung kann noch unter der erzieherischen Einwirkung des Vollzugs erfolgen. Die Kammer hat bezüglich der Anlasstat berücksichtigt, dass der Betroffene sich zur Tatzeit in einem Zustand gewisser Hilflosigkeit in der von ihm als ungerecht empfundenen Situation befunden hat, zudem der Geschädigte durch sein Vorverhalten einen gewissen Anteil an der späteren Eskalation der Auseinandersetzung hatte. Der Betroffene ist nach den Erkenntnissen des Gutachters selbst traumatisiert durch die Tat.

In der Gesamtschau der genannten Umstände ergeben sich für die Kammer keine hinreichenden, tatsachenfundierten Anhaltspunkte, dass bei dem Betroffenen bereits jetzt ein so manifestes Aggressionspotential vorhanden ist, dass eine Wiederholungsgefahr für schwerwiegende Gewalttaten besteht."

Anmerkung:

Solche Entscheidungen finden sich selten in der Rechtsprechung. Die Kammer verdient viel Beifall für ihre ablehnende Haltung gegen die inflationäre Vorgehensweise der Staatsanwaltschaften, jeden Beschuldigten, auch Jugendliche, zur Abgabe von Speichelproben zu bewegen.

Dr. Ebrahim-Nesbat, Hamburg

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht


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