Arbeitsunfall auch bei privater Fahrt mit dem Motorrad

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Mit Urteil vom 02.11.2016 hat das Sozialgericht Dortmund die Unfallkasse Nordrhein-Westfalen verurteilt, den Verkehrsunfall meines Mandanten während einer Privatfahrt als Arbeitsunfall anzuerkennen.

Der 1963 geborene Angestellte fuhr am 19.10.2012 mit seinem Motorrad zum Einkaufen. Dabei nahm ihm ein Radfahrer die Vorfahrt, als dieser vom Bürgersteig quer über die Fahrbahn fuhr. Der Mandant riss sein Motorrad zur Seite, um den Radfahrer zu schützen und ließ auch im Fallen das Motorrad nicht los. So gelang es ihm, die Maschine, die mittlerweile mit ihm auf die Fahrbahn gestürzt war, um den Radfahrer herumzulenken. Bei dem Unfall zog sich der Mandant erheblichste Verletzungen an beiden Schultern und den Knien zu. Nach Einsicht in die staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakte lehnte die Beklagte den Antrag des Klägers ab, den Unfall als Arbeitsunfall anzuerkennen. Zwar seien Personen dem Grunde nach gesetzlich unfallversichert, die bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not Hilfe leisteten oder einen anderen aus erheblicher gegenwärtiger Gefahr für dessen Gesundheit retteten. Der Kläger habe allerdings nur eine Vollbremsung eingeleitet, um einen Zusammenstoß zu verhindern. Es bestünden erhebliche Zweifel, ob er dabei bewusst an mögliche Unfallfolgen für den Radfahrer gedacht habe. Für den Kläger habe eine annähernd gleiche Gefahr bestanden, sodass die Vollbremsung auch seinem Selbstschutz gedient hätte.

Das Sozialgericht hat ausgeführt: Bei dem privaten Ereignis vom 19.10.2012 handle es sich um einen Arbeitsunfall nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII. Danach seien Arbeitsunfälle alle Unfälle von Versicherten infolge einer dem Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit. Gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 13 a) SGB VII seien solche Personen versichert, die bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not Hilfe leisteten oder einen anderen aus erheblicher gegenwärtiger Gefahr für seine Gesundheit retteten.

Der Kläger habe, indem er seinem potentiellen Unfallgegner ausgewichen sei, diesen aus erheblicher Gefahr für dessen Gesundheit gerettet, möglicherweise ihm sogar das Leben gerettet. Dass er die Rettungshandlung nicht mit zeitlichem Vorlauf geplant habe, sondern in Sekundenbruchteilen gehandelt habe, begründe keine andere Bewertung: Auch eine spontan, ohne intensive Überlegung, verrichtete Rettungstat unterfalle dem Tatbestand des § 2 Abs. 1 Nr. 13 a) SGB VII. Das habe das Bundessozialgericht gerade für ein Ausweichmanöver im Straßenverkehr entschieden (vgl. BSG, Urteil vom 30.11.1982, AZ: 2 RU 70/81; BSGE 54, 190 ff.; BSG, Urteil vom 12.12.2006, AZ: B 2 U 39/05 R).

Diese Entscheidung erscheine der Kammer sachgerecht, weil Gefahrensituationen immer überraschend auftreten und für eine Rettungsentscheidung keine Zeit für eine lange Überlegung sei. Entsprechend habe das Bundessozialgericht zutreffend entschieden, dass selbst bei reflexartigen Ausweichmanövern im Straßenverkehr Versicherungsschutz zu gewähren sei, wenn die konkrete Gefahrenlage bei natürlicher Betrachtungsweise objektiv geeignet sei, eine Rettungshandlung auszulösen (vgl. BSG, Urteil vom 08.12.1988, AZ: 2 RU 31/88, BSGE 64, 218 ff.).

Die Beklagte weise zu Unrecht darauf hin, der Kläger habe mit seiner Ausweichhandlung nicht allein den Radfahrer, sondern auch seine eigene Gesundheit retten wollen. Nach sorgfältiger Sichtung der polizeilichen Ermittlungsakte habe die Kammer bereits nicht die Erkenntnis gewinnen können, dass der Kläger mit der von ihm vorgenommenen Ausweichhandlung besser gestanden hätte als bei einer Kollision mit dem Radfahrer. Das gelte nicht nur wegen der vom Kläger tatsächlich davongetragenen Verletzungen, sondern auch wegen der abstrakten Gefahrenlage. Beim Gewicht des Motorrads von rund 350 kg und dem Fahrrad auf der anderen Seite bestünden gute Gründe für die Annahme, dass der Kläger mit seinem Motorrad überhaupt nicht gestürzt wäre, wenn er geradeaus in das Rad hineingefahren wäre.

Schlechterdings nicht verständlich sei der Vortrag der Unfallkasse Nordrhein-Westfalen, Motorradfahrer und Radfahrer seien im Straßenverkehr gleichen Gefährdungen ausgesetzt. Entscheidend sei die konkrete Gefahrenlage, die für den Kläger bei einem Aufprall der Fahrzeuge entstanden wäre. Für die Kammer bestünde kein vernunftgetragener Zweifel, dass bei einer Kollision die Gefahr für den Radfahrer ungleich höher gewesen wäre, schwerwiegendere Verletzungen als der Motorradfahrer zu erleiden

Die Beklagte hätte sogar nach dem eigenen, von ihr im angefochtenen Bescheid gewählten Subsumtionsansatz einen Arbeitsunfall annehmen müssen. Wenn die Unfallkasse dort das Bestehen einer annähernd gleichen Gefahr für den Kläger annehme, so bestätige sie geradezu die Kausalität der Handlung für die Abwendung der Gefahr von dem Radfahrer. Denn eine annähernd gleiche Gefahr für den Motorradfahrer impliziere eine ebenfalls mindestens annähernd gleiche Gefahr für den Radfahrer. Nach dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung zur Ermittlung von Kausalität im Rahmen der Theorie der wesentlichen Bedingung reiche diese annähernde Gleichwertigkeit für die Bejahung der Kausalität bereits aus.

Nicht nachvollziehbar sei auch die Zielrichtung des Vortrags der Unfallkasse, der Kläger habe die Kontrolle über sein Motorrad verloren. Tatsächlich habe der Kläger die Kontrolle über sein Motorrad verloren, weil er das gewichtige Fahrgerät wegen des Ausweichmanövers nicht mehr habe halten können. Wenn die Beklagte mit ihrem Vortrag suggerieren wolle, der Kläger habe einen bloßen Fahrfehler begangen, der mit dem Radfahrer nicht in Zusammenhang stehe, so sei dies aus den Ermittlungsakten aber auch nicht im Ansatz zu erkennen.

Diese Entscheidung des Sozialgerichts Dortmund bestätigt erneut, wie wichtig es ist, im Rahmen der anwaltlichen Bearbeitung eines Verkehrsunfalls genauestens nachzufragen, wie, warum und vor allem bei welcher Tätigkeit sich der Unfall ereignet hat. Auch wenn es sich um einen Unfall aus dem privaten Bereich handelt, besteht immer die Möglichkeit, dass ein Arbeitsunfall vorliegt, da die Tatbestandsvoraussetzungen des SGB VII gegeben sein können.

Wird der Unfall als Arbeitsunfall anerkannt, hat dies für das Unfallopfer positive Auswirkungen, da er unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung besteht.

(Sozialgericht Dortmund, Urteil vom 02.11.2016, AZ: S 17 U 955/14)

Christian Koch

Fachanwalt für Verkehrsrecht


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