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Bundestagswahl 2009 - Wahlrecht in der Diskussion

  • 8 Minuten Lesezeit
Esther Wellhöfer anwalt.de-Redaktion

Am Sonntag ist es wieder einmal soweit: Ca. 62,2 Millionen Bundesbürger sind zur Abgabe ihrer Wählerstimme aufgerufen. Mehr als die Hälfte (32,2 Millionen) davon sind Frauen, der Anteil der Erstwähler beträgt dieses Jahr ca. 3,5 Millionen. Insgesamt 3.556 Kandidaten stellen sich zur Wahl für den 17. Deutschen Bundestag. Und in diesem Zusammenhang sorgen nicht nur die immer wieder schwankenden Wahlprognosen für Diskussionsstoff, so dass es manch einem Wahlwilligen bereits ganz schwindelig werden kann. Aus diesem Anlass stellt die Redaktion von anwalt.de die Bedeutung der Bundestagswahlen nach dem Grundgesetz vor und erläutert aktuelle Themen zum Wahlverfahren - strikt auf dem Boden des Grundgesetzes, parteiübergreifend neutral und garantiert prognosefrei.

[image]Stellung der Parlamentswahlen

Die herausragende Stellung des Bundestages im Staatsgefüge ergibt sich daraus, dass er das einzige Verfassungsorgan ist, das direkt von der Bevölkerung gewählt wird. Die Parlamentswahl durch die Staatsbürger ist Ausdruck des Demokratieprinzips gemäß Artikel 20 Absatz 1 Satz 1 Grundgesetz (GG) und der Volkssouveränität (Artikel 20 Absatz 2 Satz 1 GG).

Die Abgeordneten werden in allgemeiner, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Grundlage ist die sog. personalisierte Verhältniswahl. In letzter Zeit ist die Einführung des Mehrheitswahlrechts wieder diskutiert worden. Der Gesetzgeber ist dazu berechtigt, das Wahlsystem als Verhältniswahl, als Mehrheitswahl oder als Kombination beider Wahlsysteme auszugestalten. Denn im Gegensatz zur Weimarer Verfassung haben die Väter des Grundgesetzes bewusst darauf verzichtet, ein bestimmtes Wahlsystem vorzugeben. Gemäß Artikel 38 Grundgesetz kann die Ausgestaltung der Wahl - mit Ausnahme des Wahlalters und Wählbarkeitsalters - durch ein Bundesgesetz vom Gesetzgeber geregelt werden.

Jeder Wähler kann zwei Stimmen vergeben. Mit der Erststimme (linke Seite auf dem Wahlzettel) kann er einen Direktkandidaten seines Wahlkreises wählen, der in den Bundestag einzieht, sofern er die relative Mehrheit erzielt. Seit dem Jahr 2002 gibt es im gesamten Bundesgebiet 299 Wahlkreise. In einem Bundesland richtet sich die Zahl der Wahlkreise jeweils nach der Bevölkerungszahl, die Berechnung erfolgt ebenfalls nach dem sog. Divisorverfahren mit Standardrundungen nach Sainte-Laguë (frz. Mathematiker des 20. Jh.). Bei den Wahlkreisen darf die Bevölkerungszahl nicht um mehr als 15 Prozent vom Durchschnitt abweichen. Spätestens wenn die Abweichung mehr als 25 Prozent beträgt, z.B. durch Abwanderung oder Bevölkerungszuwachs, muss eine entsprechende Neuabgrenzung der Wahlkreise vorgenommen werden.

Die Zweitstimme (rechte Seite auf dem Wahlzettel) wird dann an die Landesliste einer Partei vergeben. Je nachdem, wie viele Zweitstimmen für die Partei sowohl auf Bundes- bzw. Länderebene erzielt wurden, werden die Mandate dann anhand einer zweistufigen Verhältnisberechnung gemäß dem neuen Berechnungsverfahren nach Sainte-Laguë an die Parteien verteilt. Hinweis: Es ist übrigens das erste Mal, dass das neue Berechnungsverfahren nach Sainte-Laguë bei einer Bundestagswahl zur Anwendung kommt. Die Ersetzung der bisherigen Berechnungsmethode Hare/Niemeier (Quotenverfahren mit Restausgleich) durch das neue Divisorverfahren mit Standardrundungen hat der Bundestag am 24.01.2008 beschlossen, die zum 1. März 2008 in Kraft trat (BGBl. I S. 394).

Seit 1953 gilt auch die sog. Fünf-Prozent-Hürde, wonach nur Parteien im Bundestag vertreten sind, die mindestens fünf Prozent aller Zweitstimmen auf sich vereinigen können. Diese Hürde hat der Gesetzgeber mit Blick auf die Schwäche der Weimarer Verfassung eingeführt, die keine derartige Hürde vorsah. Die Folge war, dass viele kleine Splitterparteien im Parlament waren, die eine Mehrheitsbildung im Parlament erschwerten und nahezu unmöglich machten. Kleine Parteien können alternativ auch über die Grundmandatsklausel in den Bundestag einziehen, nämlich wenn sich in mindestens drei Wahlkreisen mit ihren Direktkandidaten durchgesetzt haben. Sie bilden dann im Bundestag keine Fraktion, sondern eine sog. „Gruppe".

Viele interessante Informationen rund um das Thema Bundestag finden Sie im aktuellen anwalt.de-Rechtstipp „Wahl-Spezial: Bundestag - Gesetzgeber und Kontrollorgan”.

Überhangmandate und sog. negatives Stimmrecht

Darüber hinaus sorgen derzeit auch die sog. Überhangmandate für Furore. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass diese Form der Mandatsvergabe verfassungswidrig ist. Überhangmandate entstehen auf folgende Weise: Von den insgesamt 598 Mandaten wird die Hälfte an die Direktkandidaten der Wahlkreise vergeben (Erststimme), die andere Hälfte gemäß den Landeslisten der Parteien (Zweitstimme). Aktuell stellen sich laut Bundeswahlleiter insgesamt 2.195 Direktkandidaten zur Wahl. Die Zweitstimme wird für eine Partei bzw. ihre Landesliste abgegeben. Bundesweit stehen 200 Landeslisten zur Wahl bzw. 2.705 Listen-Bewerber insgesamt.

Von den 598 zur Verfügung stehenden Sitzen im Bundestag werden im ersten Schritt die Wahlkreissitze abgezogen, die von den Direktkandidaten erzielt wurden, die als parteilose Einzelbewerber kandidierten oder deren Partei keine Landesliste eingereicht hat bzw. die 5-Prozent-Klausel verfehlt hat.

a) Oberverteilung - Bundesebene

Im zweiten Schritt werden die verbliebenen Sitze entsprechend den Grundsätzen der Verhältniswahl anteilig nach dem Sainte-Laguë-Verfahren im Verhältnis zu den  im gesamten Bundesgebiet erzielten Zweitstimmen an alle Parteien verteilt, die die Fünf-Prozent-Hürde überspringen konnten. Nicht mitgezählt werden Zweitstimmen von Wählern, die ihre Erststimme erfolgreich für einen Einzelbewerber oder einen Kandidaten ohne angeschlossene Landesliste abgegeben haben.

b) Unterverteilung - Landesebene

Zuletzt wird die Gesamtsitzzahl einer Partei ebenfalls nach Sainte-Laguë gemäß den von ihr errungenen Zweitstimmen für die Landesliste im jeweiligen Bundesland auf die Landeslisten der Parteien verteilt. Von dieser Sitzzahl einer Partei im jeweiligen Bundesland werden wiederum die Direktmandate der dortigen Wahlkreise abgezogen. Erzielt eine Partei dann noch weitere Sitze, werden diese entsprechend an die Landeslisten der Partei vergeben. Beispiel: Hat eine Partei jeweils 20 Prozent in zwei Bundesländern errungen, stehen ihr in einem Bundesland mit einer größeren Bevölkerungsdichte oder einer höheren Wahlbeteiligung mehr Mandate zu.

c) Überhangmandate und negatives Stimmrecht

Stimmensplitting, sog. taktisches Wählen und vor allem die immer geringer werdende Wahlbeteiligung haben die sog. Überhangmandate bei den vergangenen Wahlen begünstigt. Im aktuellen 16. Deutschen Bundestag gibt es 16 Abgeordnete, denen der Einzug ins Parlament mit Überhangmandaten gelungen ist. Überhangmandate entstehen, wenn eine Partei in den Wahlkreisen eines Bundeslandes mehr Direktmandate erzielt, als ihr nach dem Verhältnisausgleich über die Zweitstimme zustehen. Diese Sitze verbleiben dann dieser Partei und die Gesamtzahl der Sitze der Abgeordneten im Bundestag erhöht sich entsprechend. Die anderen Parteien erhalten jedoch dafür keine Ausgleichsmandate.

Und genau dies ist verfassungsrechtlich problematisch. Denn die Überhangmandate können dazu führen, dass Parteien umso mehr (Direkt-) Mandate erhalten, je weniger (Zweit-) Stimmen sie erzielen. Das führt zu dem Effekt, dass sich die abgegebene Stimme gegen den Wählerwillen auswirkt:

  • indem eine für eine Partei abgegebene Stimme dieser einen Verlust an Mandaten einbringt oder
  • Stimmen, die nicht für eine Partei abgegeben werden, dieser Partei mehr Sitze einbringen.

Wenn sich eine Wählerstimme gegen den Willen des Wählers auswirkt, widerspricht dies offensichtlich den geltenden Wahlgrundsätzen. Die Erfolgswertgleichheit (jede abgegebene Wählerstimme muss für die Partei positive Auswirkung haben) und auch die Erfolgschancengleichheit (eine abgegebene Stimme darf nicht dem eigenen Wahlziel schaden) sowie auch die Unmittelbarkeit der Wahl müssen erhalten bleiben, weil der Wähler andernfalls nicht erkennen kann, ob sich seine Stimme immer vorteilhaft für einen Bewerber oder eine Partei auswirkt oder ihm bzw. ihr sogar umgekehrt schadet. Mit einer Grundsatzentscheidung hat das Bundesverfassungsgericht daher dieses sog. negative Stimmrecht für verfassungswidrig erklärt (Urteil v. 03.07.2008, Az.: 2 BvC 1/07, 2 BvC 7/07). Die Karlsruher Richter setzten dem Gesetzgeber eine Frist, bis spätestens 30. Juni 2011 eine verfassungsgemäße Regelung in Hinblick auf die Berücksichtigung von Überhangmandaten zu treffen.

Diskussion um Einführung des Mehrheitswahlrechts

Das Verhältniswahlrecht, auch wenn es als Mischsystem ausgestaltet ist, hat einen entscheidenden Vorteil gegenüber dem Mehrheitswahlrecht, der mit der verfassungsrechtlichen Wahlrechtsgleichheit der Bürger zusammenhängt. Jeder Bürger verfügt über die gleiche Anzahl der Stimmen (Zählerwert) und den gleichen Stimmwert, d.h. seine Stimme wird bei der Zuteilung der Mandate berücksichtigt (Erfolgswert). Gerade die neue Berechnung nach Sainte-Laguë zeigt hier ihre Stärke. Denn durch die Berechnung wird die Erfolgswertgleichheit aller Stimmen optimal proportional bei der Vergabe der Parlamentssitze berücksichtigt.

Bei der Mehrheitswahl kann dagegen nur der gleiche Zählwert der Stimmen gewährleistet werden, nicht jedoch der Erfolgswert. Bei einer Mehrheitswahl erhält der Wahlsieger nicht nur den größeren Anteil der Sitzplätze, sondern alle. Die unterlegenen Parteien gehen leer aus. D.h. hier werden nur die Stimmen der Mehrheit berücksichtigt, die der Minderheit spielen in Hinblick auf ihren Stimmwert keine Rolle. Die Wahlrechtsgleichheit ist beim Mehrheitswahlrecht auf den gleichen Zählwert beschränkt, d.h. dass alle Bürger zumindest mit annähernd gleichem Stimmgewicht an der Wahl teilnehmen können. Das ist nur der Fall, wenn eine Einteilung in annähernd gleich große Wahlkreise besteht. Denn nur in möglichst gleich großen Wahlkreisen benötigt der Kandidat annähernd die gleiche Stimmenanzahl für den Einzug ins Parlament.

Anders dagegen beim Verhältniswahlrecht und seinen Mischsystemen. Indem grundsätzlich die Sitzplätze proportional nach den errungenen Stimmen verteilt werden, wird die Gleichheit des Erfolgswertes der Wählerstimmen voll berücksichtigt, so dass jeder Wähler den gleichen Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlamentes hat und jede Stimme bei der Mandatsvergabe berücksichtigt wird. Allerdings sind schon jetzt verfassungsrechtlich gewisse Ausnahmen von den Grundsätzen der Verhältniswahl gerechtfertigt, z.B. bei der Sperrklausel oder der Grundmandatsklausel, letztere um auch jungen und kleinen Parteien die Chance auf politische Mitwirkung im Bundestag zu geben.

OSZE-Wahlbeobachter im Einsatz

Erstmals schickt die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) zwölf Wahlbeobachter zur deutschen Bundestagswahl. Bei der Wahlbeobachtung werden bestimmte Wahlprozesse nach internationalen Standards von der OSZE beurteilt, etwa die Wahlgesetzgebung, die Wahlbehörden, der Wahlkampf und die Medienberichterstattung. Am 27. September nehmen die Wahlbeobachter die Wahlvorgänge in einigen Wahllokalen in Augenschein.

Auch mit dem Bundeswahlleiter werden die Beobachter die Abläufe bei den Wahlen besprechen und schließlich einen Anschlussbericht mit ihren Ergebnissen verfassen. Anlässlich des OSZE-Gipfels 1999 haben sich alle 56 OSZE-Staaten verpflichtet, den Wahlbeurteilungen und Empfehlungen „umgehend Folge zu leisten". Letztlich liegt es aber an jedem Mitgliedstaat selbst, ob und wie er die Empfehlungen der Wahlbeobachter berücksichtigt.

Kostenerstattung für den Wahlkampf

Jeder Wahlkampf bringt für die Parteien auch Kosten mit sich. Die Ausgaben werden dabei teilweise vom Staat erstattet, wobei sich der Betrag danach richtet, wie erfolgreich die Partei bei der Wahl abgeschnitten hat. In den Genuss der Wahlkampfkostenerstattung kommen alle Parteien, die zur Bundestagswahl zugelassen wurden. Die Berechnung erfolgt abgestuft nach erzielten, abgegebenen Wählerstimmen. Für die ersten vier Millionen gültigen Wählerstimmen je 0,85 Euro, ab dann für jede weitere Stimme 0,70 Euro.

Allerdings besteht auch hier eine Grenze: Die Wahlkampfkosten werden einer Partei nur erstattet, wenn sie mindestens 0,5 Prozent der abgegebenen Stimmen erreicht hat. Hinweis: Dies soll verhindern, dass sich kleine Splitterparteien zur Wahl stellen, nur um die Kostenerstattung abzukassieren.

Einzelbewerber können ebenfalls die Kostenerstattung ab einem erzielten Erststimmenanteil von 10 Prozent in Höhe von 2,80 Euro je Stimme beanspruchen.

(WEL)

Foto(s): ©iStockphoto.com

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