Die Würdigung von sich widersprechenden Sachverständigen- und Privatgutachten im Gerichtsverfahren

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Gutachten im Arzthaftungsrecht


Wie ist hier zu verfahren? – Was ist zu beachten?

Im Medizinrecht, insbesondere im Arzthaftungsrecht ist die Erstellung von Sachverständigengutachten unerlässlich. Es gibt hier die Möglichkeit, außergerichtlich über seine gesetzliche Krankenversicherung ein Gutachten beim MDK anzufordern. Viele private Krankenversicherungen ziehen hier bereits nach und unterstützen ihre Versicherungsnehmer mit Gutachten oder zumindest ärztlichen Einschätzungen. Weiter besteht die Möglichkeit, bei den jeweiligen Ärztekammern ein Gutachten anzufordern. Somit stellt sich bereits außergerichtlich die Problematik, dass man mit mehreren Gutachten konfrontiert wird und sich diese Gutachten im schlimmsten Falle widersprechen. In keinem Fall sollte man sich hier von der gegnerischen Versicherung einschüchtern lassen, falls diese einzig die Einschätzungen ihrer Beratungsärzte als richtig unterstellt, welche einem weiteren vorliegenden Gutachten völlig widersprechen. Gerne unterstützen wir Sie bereits in der Zeit der Erstellung der Gutachten. Wir tragen die medizinischen Unterlagen zusammen. Wir bereiten die Anfragen für die Gutachter vor. Wir führen die Korrespondenz mit den Versicherungen und Gutachtern und arbeiten zusammen mit Ihnen die dann vorliegenden Gutachten Stück für Stück durch.

Der BGH hat in einer seiner jüngsten Entscheidungen (26.02.2020, IV ZR 220/19) Stellung genommen zu der in der Praxis höchstrelevanten Frage, wie der Widerspruch von Auffassungen eines gerichtlich bestellten Sachverständigen und eines von den Parteien beauftragten Gutachters zu behandeln ist. Damit wurde die Position der Parteien im Beweisverfahren betont, die regelmäßig vor dem Problem stehen, dass privat beauftragte Gutachten durch den MDK oder einen anderen Arzt lediglich als Parteivortrag „abgetan“ werden oder im schlimmsten Fall das Gericht dem gerichtlich bestellten Sachverständigen alleine mit der Begründung den Vorzug gibt, dass es gerade diesen Gutachter bereits seit Jahren kennt und schätzt.

Sachverhalt

Der Kläger war selbständiger Marktleiter zweier Supermarktfilialen. Im Oktober 2010 stellte er einen Leistungsantrag wegen Berufsunfähigkeit aufgrund psychischer Erkrankungen. Nachdem die Beklagte ihre Leistungspflicht zunächst anerkannt hatte, leitete sie ab 2012 mehrere Nachprüfungsverfahren ein und stellte schließlich aufgrund eines im April 2014 erstatteten psychiatrischen Gutachtens des von ihr beauftragten Sachverständigen ihre Leistungen ein, da der Kläger nicht mehr berufsunfähig sei. Der Kläger hat die weitere Zahlung der vereinbarten Berufsunfähigkeitsrente zuzüglich Überschussbeteiligung, sowie die Beitragsbefreiung begehrt. Er hat sich hierzu auf ein von ihm in Auftrag gegebenes fachpsychiatrisches Gutachten berufen, das ihm darin eine weiter bestehende Berufsunfähigkeit von mindestens 50 % attestierte.

Das Landgericht hat die Klage nach Einholung eines Gutachtens abgewiesen; das Oberlandesgericht hat ihr nach persönlicher Anhörung des Klägers und ergänzender Vernehmung des gerichtlichen Sachverständigen in vollem Umfang stattgegeben.

Das Oberlandesgericht führte aus, die Beklagte sei ihrer Beweislast, dass der Kläger nicht mehr berufsunfähig sei, nicht nachgekommen. Die gegenteilige Auffassung des Landgerichts beruhe auf Gehörsverletzung und Fehlern bei der Beweiswürdigung.

Das Berufungsgericht hat die Revision nicht zugelassen. Hiergegen wehrte sich die Beklagte mit der Nichtzulassungsbeschwerde.

Entscheidung

Die Beschwerde hatte Erfolg, so dass das Berufungsurteil aufgehoben und an das Oberlandesgericht zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen wurde.

Die Beklagte rügte mit Recht eine Verletzung des rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 Abs. 1 GG, indem das Berufungsgericht ihrem Beweisantrag zur Einholung eines Sachverständigengutachtens zu dem von ihr behaupteten Wegfall der Berufsunfähigkeit nur unvollkommen entsprochen hat und die Ausführungen in dem von ihr eingeholten Privatgutachten nicht berücksichtigt hat.

Hier stellte der BGH erneut klar, dass Privatgutachten, die gegenüber dem gerichtlich bestellten Sachverständigen zu gegensätzlichen Ergebnissen kommen, die besondere Sorgfalt des Tatrichters in der Beweiswürdigung erfordern (BGH Beschluss vom 09.06.2006, VI ZR 261/08). Die widerstreitenden Ansichten des gerichtlich bestellten Sachverständigen und der Privatgutachter dürfe der Tatrichter nicht dergestalt lösen, dass er ohne einleuchtende oder nachvollziehbare Gründe einem Gutachten den Vorzug gibt (BGH Beschluss vom 09.06.2006, VI ZR 261/08; OLG Brandenburg, Beschluss vom 10.02.2020, 2 U 34/90).

Zwar hält der BGH auch in dieser Entscheidung daran fest, dass Privatgutachten keine Beweise, sondern substantiierter Parteivortrag sind. Jedoch entspreche es dem Recht auf rechtliches Gehör, dass die von den Parteien in den Gutachten vorgelegten Ausführungen vom Tatrichter in jeder Hinsicht berücksichtigt und abgewogen werden.

Einwände, die sich aus dem Privatgutachten gegen das vom Gericht bestellte Sachverständigengutachten ergeben, müsse das Gericht ernst nehmen und ihnen nachgehen, um den Sachverhalt so weit wie möglich aufzuklären. In welcher Weise der Tatrichter seiner Pflicht zur Beweisaufklärung nachkommt, liege grundsätzlich in seinem Beurteilungsspielraum. Es stehe ihm frei, eine schriftliche Ergänzung des gerichtlich bestellten Sachverständigen zu den Feststellungen des Privatgutachtens einzufordern oder den Sachverständigen persönlich zu diesen Fragen anzuhören oder, wenn sich die Widersprüche nicht anders klären lassen, ein weiteres Gutachten in Auftrag zu geben.

Auch wenn das Gericht das gerichtlich bestellte Gutachten für mangelhaft hält, dürfe es sich nicht ohne weiteres auf die Ausführungen des Privatgutachtens verlassen, sondern muss gegebenenfalls ein weiteres Gutachten einholen. Selbst wenn das Privatgutachten zum selben Ergebnis kommt wie das für mangelhaft befundene Sachverständigengutachten, müsse das Gericht feststellen und darlegen, ob das Privatgutachten dieselben Bedenken wie das Sachverständigengutachten trägt. Die fehlende Auseinandersetzung mit dem Privatgutachten genüge jedenfalls nicht.

Das Gericht kann den Sachverständigen zu einer schriftlichen Ergänzung seines Gutachtens veranlassen. Es kann aber auch die mündliche Anhörung des Sachverständigen gemäß § 411 Abs. 3 ZPO durchführen. Ein Antrag der beweispflichtigen Partei ist dazu nicht erforderlich.

Fazit

Mit dieser Entscheidung hat der BGH für den in der Praxis schwierigen Umgang mit Parteigutachten immerhin Gericht und Parteien eine Anleitung an die Hand gegeben. Zwar trifft der Kern der Entscheidung die auch bisher stetige Rechtsprechung, dass auf Parteigutachten in der Beweiswürdigung jedenfalls eingegangen werden muss und sie nicht einfach zu Gunsten von Sachverständigen- oder anderen Privatgutachten übergegangen werden dürfen. Allerdings ist die tiefgehende Auseinandersetzung mit der Beweiswürdigung widersprüchlicher Gutachten in ihrer Stringenz und Ausführlichkeit neu und wird hoffentlich zu einer einheitlichen Berücksichtigung von Privatgutachten in den Tatsacheninstanzen führen. Insofern stärkt dieses Urteil die Position der Parteien in ihrem Vortrag und dessen Berücksichtigung im Verfahren.

Es darf also nicht alleine dem gerichtlich bestellten Sachverständigen der Vorrang eingeräumt werden. Vielmehr müssen hier sämtliche Einwände ausgeräumt werden, sei es durch schriftliche Ergänzung, durch mündliche Anhörung oder aber auch durch die Bestellung eines weiteren Gutachters.

Dieses Urteil des BGH wird uns die Arbeit, insbesondere vor den Gerichten wesentlich erleichtern. Es kann und darf nicht mehr so leicht über Privatgutachten hinweggegangen werden.

Liegt Ihnen bereits ein Gutachten vor oder möchten Sie gerne zu einem vermuteten Behandlungsfehler ein Gutachten erstellen lassen, dann kontaktieren Sie uns gerne. Wir sind eine bundesweit agierende Kanzlei, die umfassend im Bereich des Medizinrechts, insbesondere zur Problematik von Behandlungsfehlern berät und bei der Durchsetzung sich daraus ergebender Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche tätig wird. In diesem Zuge begleiten wir Sie bereits beim Erstellen ärztlicher Gutachten, wir formulieren die Aufträge an die Gutachter, übernehmen die Beiziehung der Patientenakten und setzen uns dann mit den Gutachten auseinander. Selbst wenn ein Gutachten – positiv oder negativ – bereits vorliegt, unterstützen wir Sie gerne bei der Geltendmachung Ihrer Ansprüche.

Nora Safa, Rechtsreferendarin, juristische Mitarbeiterin

Ulrike Böhm-Rößler, Rechtsanwältin, Fachanwältin für Medizinrecht

Foto(s): Ulrike Böhm-Rößler

Rechtstipp aus den Rechtsgebieten

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