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Jugendstrafrecht: Wann das Verfahren eingestellt wird – ohne Urteil, ohne Vorstrafe, ohne Eintrag im Führungszeugnis

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Im Jugendstrafrecht gilt nicht „Strafe um jeden Preis“, sondern der Gedanke: Erziehung statt Bestrafung. Anders als im Erwachsenenstrafrecht steht hier die soziale Entwicklung im Vordergrund. Besonders deutlich wird das bei der Möglichkeit der Verfahrenseinstellung – also dem Absehen von einer formellen Anklage oder einem Urteil. Zwei zentrale Vorschriften ermöglichen dies: § 45 und § 47 JGG.

Was bedeutet „Einstellung des Strafverfahrens“ überhaupt?

Wird ein Verfahren eingestellt, bedeutet das:
Es kommt zu keiner Verurteilung. Das Verfahren endet vorzeitig – oft diskret und ohne Eintragung im Bundeszentralregister. Trotzdem kann eine pädagogische Maßnahme erfolgen (z. B. Entschuldigung, Sozialstunden, Täter-Opfer-Ausgleich).

Im Ergebnis: Der Jugendliche wird ermahnt oder muss eine Auflage erfüllen, ohne dass ein Makel bleibt, der ihn später in Schule, Ausbildung oder Beruf verfolgt.


§ 45 JGG – Die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren ein

Drei Varianten der Einstellung nach § 45 JGG:

1. § 45 Abs. 1 JGG – Einstellung bei Geringfügigkeit

Wenn die Tat nur leichtes Gewicht hat und keine Anklage notwendig erscheint, kann die Staatsanwaltschaft das Verfahren einstellen – ohne richterliche Beteiligung. Die Voraussetzung ist, dass die Kriterien des § 153 StPO erfüllt sind (geringe Schuld, kein öffentliches Interesse).

Beispiel aus der Praxis:
Ein 16-Jähriger wird beim erstmaligen Ladendiebstahl von Süßigkeiten im Wert von 5 Euro erwischt. Keine Vorstrafen, kein erkennbares kriminelles Muster. Ergebnis: Einstellung nach § 45 Abs. 1 JGG ohne weitere Konsequenzen.

2. § 45 Abs. 2 JGG – Erzieherische Maßnahme bereits erfolgt

Wenn der Jugendliche sich aktiv mit seinem Fehlverhalten auseinandersetzt – etwa durch eine Entschuldigung beim Opfer, Teilnahme an einem sozialen Trainingskurs oder Täter-Opfer-Ausgleich – kann dies die Einstellung des Verfahrens rechtfertigen.

Wichtig:
Diese Maßnahme muss vor der Entscheidung erfolgt oder bereits eingeleitet sein. Die Staatsanwaltschaft verzichtet dann auf Anklage – im Interesse einer positiven Entwicklung.

3. § 45 Abs. 3 JGG – Ermahnung oder Auflage durch den Jugendrichter

Manchmal genügt es nicht, das Verfahren einfach „wegzustecken“. Dann kann die Staatsanwaltschaft beim Jugendrichter anregen,
eine Ermahnung/Weisungen (z. B. Teilnahme an einem Kurs), oder
– Auflagen (z. B. gemeinnützige Arbeit)
zu erteilen.

Wenn der Jugendliche geständig ist und die Maßnahme erfüllt, stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren endgültig ein. Kommt der Jugendliche der Maßnahme nicht nach, droht dann doch ein förmliches Strafverfahren.


Was passiert, wenn die Staatsanwaltschaft nicht einstellt?

Nicht immer endet das Verfahren schon bei der Staatsanwaltschaft (§ 45 JGG). In manchen Fällen erhebt die Staatsanwaltschaft trotzdem Anklage – etwa, wenn die erzieherische Wirkung unklar ist oder Zweifel an der Einsicht des Jugendlichen bestehen. Dann ist das Jugendgericht am Zug.

Doch auch jetzt gibt es eine Möglichkeit, das Verfahren ohne Urteil zu beenden: § 47 JGG eröffnet diese Option – eine Einstellung durch den Jugendrichter.


Die 4 Varianten der Einstellung nach § 47 Abs. 1 JGG

1. Geringfügigkeit nach § 153 StPO

Wie schon bei § 45 Abs. 1 JGG kann das Gericht nach Anklageerhebung das Verfahren einstellen, wenn die Schuld als gering anzusehen ist und kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht.

Beispiel:
Ein Schüler sprayt ein kleines Tag auf eine Schulwand, zeigt sich aber direkt einsichtig. Die Schule will keine Anzeige zurückziehen, also kommt es zur Anklage. Das Gericht kann dennoch nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 JGG einstellen.

2. Maßnahme bereits erfolgt (§ 47 Abs. 1 Nr. 2 JGG)

Wurde bereits eine erzieherische Maßnahme eingeleitet oder durchgeführt, kann das Gericht davon ausgehen, dass ein Urteil nicht mehr notwendig ist. Die Maßnahme hat ihren Zweck erfüllt.

Beispiel:
Ein Jugendlicher entschuldigt sich im Täter-Opfer-Ausgleich, leistet freiwillig 30 Sozialstunden und reflektiert die Tat in einem pädagogischen Gespräch. Das Gericht kann das Verfahren nachträglich einstellen, weil der Erziehungszweck erfüllt wurde.

3. Auflage oder Weisung mit vorläufiger Einstellung (§ 47 Abs. 1 Nr. 3 JGG)

Auch nach Anklageerhebung kann das Gericht dem Jugendlichen eine Frist geben, um eine richterlich angeordnete Maßnahme zu erfüllen. Erfolgt die Umsetzung (z. B. Sozialstunden, Anti-Gewalt-Training, Entschuldigung), wird das Verfahren endgültig eingestellt.

Der Unterschied zu § 45 Abs. 3: Die Maßnahme kommt vom Richter.

4. Strafunfähigkeit mangels Reife (§ 47 Abs. 1 Nr. 4 JGG)

Jugendliche und Heranwachsende zwischen 14 und 20 Jahren sind nur strafrechtlich verantwortlich, wenn sie die nötige Reife besitzen, das Unrecht ihrer Tat zu erkennen. Fehlt diese Reife, stellt das Gericht das Verfahren ein.

Praxisbeispiel:
Ein 14-jähriger mit massiven Entwicklungsrückständen wird beim Einbruch ertappt. Ein Gutachten zeigt: Er konnte Unrecht und Folgen nicht vollständig überblicken. Das Verfahren wird eingestellt – nicht aus Gnade, sondern wegen fehlender Schuldfähigkeit.


Wie läuft die gerichtliche Einstellung konkret ab?

  • Die Entscheidung erfolgt durch Beschluss.

  • Staatsanwaltschaft muss zustimmen.

  • In einigen Fällen werden dem Jugendlichen die Gründe nicht mitgeteilt, um seine Erziehung nicht zu beeinträchtigen (§ 47 Abs. 2 JGG).


Wie läuft eine Einstellung nach dem JGG in der Praxis ab?

Der Ablauf unterscheidet sich je nachdem, ob die Staatsanwaltschaft (§ 45 JGG) oder das Gericht (§ 47 JGG) zuständig ist. Entscheidend ist der Zeitpunkt im Verfahren:

  • Vor Anklageerhebung: Die Staatsanwaltschaft prüft, ob ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht oder eine Maßnahme bereits erfolgt ist.

  • Nach Anklageerhebung: Das Gericht kann das Verfahren durch Beschluss einstellen – häufig auf Vorschlag der Jugendgerichtshilfe und mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft.

Wird das Verfahren vorläufig eingestellt, gibt es meist eine Frist (z. B. 6 Monate), innerhalb derer der Jugendliche bestimmte Auflagen oder Weisungen erfüllen muss. Dazu zählen:

  • Ableistung gemeinnütziger Arbeit

  • Teilnahme an sozialen Trainingskursen

  • Anti-Gewalt-Programme

  • Täter-Opfer-Ausgleich

  • Persönliche Entschuldigung beim Geschädigten

Erfüllt der Jugendliche diese Bedingungen, wird die Einstellung endgültig und das Verfahren ist beendet.


Welche Rolle spielt die Jugendgerichtshilfe?

Die Jugendgerichtshilfe (JGH) hat im Jugendstrafrecht eine zentrale Funktion. Sie liefert Einschätzungen zur Reife, Entwicklung und sozialen Situation des Jugendlichen – und gibt Empfehlungen zur Einstellung oder zu erzieherischen Maßnahmen.

  • Die JGH führt Gespräche mit dem Jugendlichen und ggf. den Eltern.

  • Sie beurteilt Reue, Einsicht und Kooperationsbereitschaft.

  • Oft gibt sie den Anstoß für eine Einstellung mit Auflage (z. B. Sozialstunden oder Projektarbeit).

Ein erfahrener Verteidiger bindet die Jugendgerichtshilfe frühzeitig strategisch ein, um den richtigen Rahmen für eine Einstellung zu schaffen.


Was kann ein Strafverteidiger konkret tun?

Ein spezialisierter Jugendstrafverteidiger hat mehrere Hebel, um auf eine Einstellung hinzuarbeiten:

  • Frühzeitiger Kontakt zur Staatsanwaltschaft mit Vorschlag einer Maßnahme (z. B. freiwillige Entschuldigung)

  • Vermittlung eines Täter-Opfer-Ausgleichs über geeignete Stellen

  • Kooperation mit der Jugendgerichtshilfe, um ein günstiges Bild des Jugendlichen zu fördern

  • Verhinderung einer Anklage durch proaktive Verteidigung und erzieherisch sinnvolle Maßnahmen

  • Beantragung der Einstellung in der Hauptverhandlung nach § 47 JGG

Entscheidend ist oft der richtige Ton: Nicht die Tat leugnen – sondern die positive Entwicklung des Jugendlichen herausstellen und unterstützen.


Tipps für Eltern – So unterstützen Sie Ihr Kind richtig

  • Nehmen Sie das Verfahren ernst, aber bleiben Sie ruhig. Eine Einstellung ist realistisch.

  • Sorgen Sie für einen erfahrenen Strafverteidiger, der auf Jugendstrafrecht spezialisiert ist.

  • Fördern Sie die Einsicht des Jugendlichen – Reue, Entschuldigung und aktive Mitarbeit wirken stark.

  • Unterstützen Sie auferlegte Maßnahmen aktiv (z. B. Fahrten zu gemeinnütziger Arbeit).

  • Kooperieren Sie mit der Jugendgerichtshilfe – sie ist kein Gegner, sondern ein wichtiger Vermittler.


Praktische Beispiele, Grenzen der Einstellung und Folgen – Was Sie wissen müssen

Typische Fälle, in denen eine Einstellung nach § 45 oder § 47 JGG realistisch ist

Nicht jeder Gesetzesverstoß von Jugendlichen führt automatisch zu einem Gerichtsprozess. Die Praxis zeigt, dass gerade bei erstmaligen oder geringfügigen Delikten die Staatsanwaltschaft häufig prüft, ob eine Verfahrenseinstellung in Betracht kommt. Hier einige typische Fallkonstellationen:

  • Diebstahl geringwertiger Sachen (§ 242 StGB): Ein Jugendlicher entwendet einen Energy-Drink oder eine Powerbank aus einem Elektronikgeschäft. Die Tat wird aufgeklärt, der Jugendliche gesteht. Die Rückgabe der Ware, eine Entschuldigung beim Ladeninhaber und ein Brief der Reue genügen oft, um das Verfahren nach § 45 Abs. 2 JGG einzustellen.

  • Körperverletzung (§ 223 StGB): Zwei Schüler geraten nach Schulschluss in eine Rangelei. Ein blauer Fleck, keine bleibenden Schäden. Bei Einsicht, Entschuldigung und Sozialtraining über die Jugendgerichtshilfe kann § 45 Abs. 3 JGG greifen.

  • Hausfriedensbruch (§ 123 StGB): Jugendliche dringen nachts in ein leerstehendes Gebäude ein. Sobald klar ist, dass keine Zerstörung oder Vandalismus beabsichtigt war, ist die Einstellung oft eine Alternative.

  • Graffiti / Sachbeschädigung (§ 303 StGB): Der Jugendliche wird beim Sprayen erwischt, gesteht und bietet Wiedergutmachung durch Reinigung oder Geldersatz an. Eine einvernehmliche Lösung mit dem Geschädigten (Täter-Opfer-Ausgleich) kann eine Einstellung begründen.

Diese Beispiele zeigen: Gerade bei pädagogisch ansprechbaren Jugendlichen, die keine gravierenden Vorstrafen haben, stehen die Chancen auf eine Einstellung gut – insbesondere, wenn Verteidiger und Jugendgerichtshilfe konstruktiv mitarbeiten.


Grenzen der Verfahrenseinstellung – Wann ein Gerichtsverfahren unausweichlich ist

Die Möglichkeiten der §§ 45 und 47 JGG sind weit, aber nicht unbegrenzt. In folgenden Konstellationen ist eine Einstellung in der Regel nicht (mehr) möglich:

  • Schwere Kriminalität: Bei Raub, gefährlicher Körperverletzung mit Waffen, sexuellen Übergriffen oder Taten mit erheblichem Schaden wird die Justiz in aller Regel ein Urteil anstreben. Auch bei Wiederholungstätern ist die Schwelle deutlich höher.

  • Leugnendes Verhalten: Wenn ein Jugendlicher die Tat abstreitet oder nicht mitwirkt, etwa Auflagen ignoriert, kann die Staatsanwaltschaft oder das Gericht kaum eine Einstellung vertreten.

  • Fehlende Einsicht / Aggressives Verhalten: Wenn der Beschuldigte keine Reue zeigt, sich uneinsichtig oder unkooperativ verhält, wird die Staatsanwaltschaft eine gerichtliche Auseinandersetzung für erforderlich halten.


Wird ein eingestelltes Jugendverfahren gespeichert oder wirkt es sich später aus?

Auch wenn ein Verfahren nach § 45 oder § 47 JGG eingestellt wird, fragen sich viele Mandanten oder Eltern: Bleibt das irgendwo gespeichert? Die Antwort ist zweigeteilt:

  1. Kein Eintrag ins Führungszeugnis: Eine Einstellung nach diesen Vorschriften erscheint nicht im polizeilichen Führungszeugnis – auch nicht bei späteren Bewerbungen im öffentlichen Dienst oder bei sensiblen Berufen.

  2. Eintrag ins Erziehungsregister: Dennoch wird das Verfahren im sogenannten Erziehungsregister (§ 61 BZRG) intern dokumentiert. Es dient ausschließlich Jugendrichtern und Staatsanwälten zur Prüfung, ob bereits frühere Maßnahmen erfolgt sind. Arbeitgeber, Schulen oder Universitäten erhalten davon keine Kenntnis.

Der Vorteil liegt auf der Hand: Wer als Jugendlicher von einer Verfahrenseinstellung profitiert, kann mit einem "sauberen Blatt" ins Erwachsenenleben starten – vorausgesetzt, es kommt zu keiner Wiederholungstat.


Strategische Bedeutung für die Zukunft des Jugendlichen

Für Strafverteidiger ist die Einstellung eines Jugendverfahrens kein „kleiner Sieg“, sondern ein strategisches Ziel. Sie bedeutet:

  • Keine öffentlichen Hauptverhandlungen

  • Kein Urteil, keine Jugendstrafe

  • Keine Stigmatisierung durch Presseberichte

  • Keine belastende Eintragung im Führungszeugnis

  • Schnelle Wiedereingliederung ohne langfristige juristische Folgen

Gerade bei Schülern, Auszubildenden oder Heranwachsenden mit Migrationshintergrund ist das entscheidend – ein offener Strafprozess kann Studienwünsche, Einbürgerung, Ausbildungswege oder sogar die Bleibeperspektive gefährden.

Ihr Ansprechpartner im Jugendstrafrecht – Rechtsanwalt Tom Beisel

Als erfahrener Strafverteidiger mit besonderem Fokus auf Jugendstrafverfahren setze ich mich engagiert dafür ein, dass Ihr Kind oder Ihr Angehöriger nicht unnötig stigmatisiert wird – sondern eine faire Chance erhält. Eine frühzeitige Einstellung nach § 45 oder § 47 JGG kann oft über die Zukunft eines jungen Menschen entscheiden.

Lassen Sie sich frühzeitig beraten. Rufen Sie mich an oder schreiben Sie mir direkt.

☎ 0208 30782630

beisel@duckscheer.de

Rechtsanwalt Tom Beisel – Strafverteidigung mit Strategie.

Foto(s): https://unsplash.com/de/@villxsmil

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