„Keine bundesweite Systemrelevanz wäre Wettbewerbsverzerrung“ – Rechtsanwalt Gottwald im Interview

  • 5 Minuten Lesezeit
anwalt.de-Redaktion
„Keine bundesweite Systemrelevanz wäre Wettbewerbsverzerrung“ – Rechtsanwalt Gottwald im Interview

Der Deutsche Anwaltverein und die Bundesrechtsanwaltskammer plädieren dafür, Rechtsanwälte bundesweit als systemrelevant einzustufen. Nordrhein-Westfalen und Sachsen waren die Vorreiter, Mecklenburg-Vorpommern und Rheinland-Pfalz haben nachgezogen.

Auch Rechtsanwalt Dr. Wolfgang Gottwald, München, hat sich die Frage bereits gestellt: Sind Anwälte systemrelevant? anwalt.de hat mit ihm über das Thema gesprochen.

Mit Ihrem anwalt.de-Profil werden Sie als Anwalt gefunden

Jetzt kostenlos testen

Mit Ihrem anwalt.de-Profil werden Sie als Anwalt gefunden

Jetzt kostenlos testen

In Nordrhein-Westfalen, Sachsen und zwei weiteren Bundesländern gelten Anwälte nun als systemrelevant. Werden Anwälte in den anderen Bundesländern nicht ausreichend gewürdigt, wenn sie als (noch) nicht systemrelevant gelten? 

Die genauen Gründe, warum Anwälte in NRW und Sachsen als systemrelevant gelten, in anderen Bundesländern aber (noch) nicht, sind mir im Augenblick nicht bekannt. Ich hoffe aber sehr, dass wir da zu einer bundeseinheitlichen Regelung im Sinne der Systemrelevanz kommen werden.

Inwieweit sind Sie persönlich davon betroffen, dass Anwälte in Bayern nicht als systemrelevant gelten?

Wir kommen in unserer Kanzlei mit der derzeitigen Regelung eigentlich ganz gut zurecht. Das kann aber für andere Kanzleien auch ganz anders aussehen.

Sollten Bayern und die anderen Bundesländer Ihrer Meinung nach nachziehen und ist damit zu rechnen? 

Ich bin auf jeden Fall für eine bundeseinheitliche Regelung, da viele Anwälte – wie wir auch – bundesweit tätig sind. Das wäre auch eine Wettbewerbsverzerrung, wenn beispielsweise der Kollege aus Köln einen Fall übernehmen bzw. einen laufenden Fall weiterbearbeiten kann, während der Anwalt aus Bayern wegen der fortdauernden Ausgangsbeschränkung daran gehindert ist oder ständig Fristverlängerung beantragen muss. Wie soll ich das dem Mandanten aus NRW vermitteln? Letztendlich zählt für den Mandanten ja in erster Linie, dass die Arbeit zuverlässig und zeitnah erledigt wird – und nicht, warum das im Augenblick leider gerade nicht geht.

Fragen wir doch einmal anders herum: Was wäre eigentlich der Nachteil, wenn man Anwälte bundesweit als systemrelevant einstuft? Man traut uns Anwälten doch auch sonst zu und erwartet zu Recht von uns, vernünftig und verantwortungsvoll zu handeln. Warum und in welcher Weise sollten wir denn die Einstufung als “systemrelevant” ausnutzen oder missbrauchen?

Wer sollte Ihrer Meinung nach in der Justiz als systemrelevant gelten? Halten Sie die gesamte Justiz für systemrelevant?

a) Für ein funktionierendes Staatswesen ist die Justiz unabdingbar. Natürlich gibt es auch in der Justiz einzelne Aufgaben, die man nicht unbedingt heute oder morgen bearbeiten muss. Aber eine pauschale Differenzierung halte ich für schwierig. Soll man etwa sagen: Strafrecht ist systemrelevant, Zivilrecht dagegen nicht?

Da ließen sich viele Beispiele finden, etwa auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts, in denen eine unverzügliche gerichtliche Entscheidung (einstweilige Verfügung) mindestens ebenso dringend ist wie etwa ein Strafverfahren wegen eines minderschweren Vergehens.

b) Da die Justiz meines Erachtens ohne Anwälte nicht ordnungsgemäß funktionieren kann, halte ich auch Anwälte für systemrelevant. Für Verfahren vom Landgericht an aufwärts, wo schon vom Prozessrecht her Anwaltszwang besteht, erscheint mir das offensichtlich. Aber auch ein Kündigungsschutzverfahren vor dem Arbeitsgericht, in dem kein Anwaltszwang besteht, lässt sich ohne Anwälte meines Erachtens nicht sinnvoll durchführen.

Anwälte bereiten durch ihre Schriftsätze die Gerichtsverfahren vor und filtern gewissermaßen die rechtlich relevanten Elemente aus dem umfassenden Tatsachenvortrag des Mandanten heraus. Ohne Anwälte wären die Gerichte weit stärker belastet. Außerdem sorgen Anwälte dafür, dass die Prozessparteien die sachgerechten Anträge stellen usw.

c) Und auch in der anwaltlichen Beratungspraxis gibt es durchaus eilbedürftige Angelegenheiten. Man denke etwa an die Patientenverfügung eines schwerkranken Corona-Patienten oder den Entwurf eines (komplizierten) Testamentes für einen 90-jährigen Unternehmer. Solche Dinge können nicht warten, und die lassen sich auch ohne Anwalt in der Regel nicht sachgerecht erledigen.

Wie sieht Ihr Alltag als Anwalt momentan – in der Corona-Krise – aus?

Für uns hat sich in der Krise nicht sehr viel geändert. Die Beratung von Firmenmandanten läuft ja ohnehin überwiegend per E-Mail oder Telefon. Da kommt es eher selten vor, dass einmal ein Geschäftsführer persönlich bei uns in der Kanzlei vorbeischaut. So etwas passiert schon eher, wenn man Arbeitnehmer etwa in Kündigungsschutzsachen vertritt. Die wollen ihren Fall dann auch persönlich mit dem Anwalt besprechen. Das machen wir aber derzeit auch lieber telefonisch oder per E-Mail.

Zum Thema Corona selbst kommt schon die eine oder andere Frage. Allerdings stellt das sicher nicht den Schwerpunkt unserer Tätigkeit dar. Das liegt wohl auch daran, dass die Mandanten viele Informationen einfach im Internet abrufen können.

Man könnte vielleicht sagen: Der Büroalltag ist etwas ruhiger geworden, aber nicht weniger arbeitsintensiv.

Wie läuft der Alltag in Ihrer Kanzlei? Ist die Arbeit Ihrer Mitarbeiter derzeit in der Kanzlei oder von zu Hause aus möglich?

Ich versuche, die Arbeit so zu organisieren, dass die Mitarbeiter möglichst wenig ins Büro kommen müssen. Eine Mitarbeiterin, die eigentlich an zwei Tagen in der Woche arbeitet, kommt derzeit nur an einem Tag. Welcher Tag das dann konkret ist, stimmen wir jeweils im Einzelfall ab, natürlich auch unter Berücksichtigung der Betreuungssituation.

Diese Mitarbeiterin hat beispielsweise 4 Kinder und einen Mann, der teilweise im Home-Office arbeitet. Dann versuchen wir, den Arbeitstag eben so zu legen, dass sich da der Mann um die Kinder kümmern kann. In der akuten Phase, als das mit Corona noch neu war, musste die Mitarbeiterin auch gar nicht ins Büro kommen, denn das sind für sie eben doch an die 50 km mit Bahn und MVV. Und gerade in den öffentlichen Verkehrsmitteln ist das Ansteckungsrisiko ja wahrscheinlich mit am größten.

Für mich persönlich bedeutet das zwar etwas mehr Arbeit, aber dank Spracherkennungssoftware geht das eigentlich ganz gut. Verträge prüfen, Rechtsfragen beantworten – das lässt sich alles ohne Weiteres direkt in den Computer diktieren und per E-Mail an den Mandanten schicken. Und wenn die Buchhaltung mal ein paar Tage liegen bleibt, geht davon die Welt auch nicht gleich unter.

Home-Office sehe ich im Anwaltsbereich eher skeptisch, vor allem im Hinblick auf den Datenschutz. Ich kann ja nicht wirklich kontrollieren, wer bei meiner Mitarbeiterin zu Hause alles Zugriff auf den Computer hat. Und eine gesicherte beA-Verbindung wie zwischen Anwälten und Gericht gibt es zwischen der Kanzlei und dem Wohnzimmer der Mitarbeiterin ja auch nicht.

-

Dr. Wolfgang Gottwald ist seit 2012 bei anwalt.de und seit mehr als 25 Jahren als Rechtsanwalt tätig. Seine Kanzlei in München führt er seit 2000.

(CBR/DMI; ZGRA)

Foto(s): ©Dr. Wolfgang Gottwald

Artikel teilen: