Sind Anwälte „systemrelevant"?

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In diesen Corona-Zeiten ist viel davon die Rede, dass manche Berufe „systemrelevant“ sind. Zählen da auch wir Anwälte dazu?

1. Nun, auf den ersten Blick erscheint diese Behauptung etwas vermessen. Systemrelevant sind natürlich in erster Linie Ärzte und Krankenpfleger (w/m), also Berufe, die Menschenleben retten. Anwälte dagegen sind eher selten Lebensretter.

2. Andererseits darf man nicht verkennen, dass zu einem funktionierenden Staatswesen nun einmal auch eine funktionierende Justiz gehört.

a) Die Verfassungs- oder Verwaltungsgerichte schreiten ein, wenn Politiker die Freiheitsrechte der Menschen zu stark beschränken.

b) Auch in Corona-Zeiten finden Straftaten statt, die verfolgt, zur Anklage gebracht und abgeurteilt werden müssen. Ohne Staatsanwälte und Strafgerichte ist dies nicht möglich.

c) Und auch in Corona-Zeiten gibt es eilbedürftige Angelegenheiten im Bereich des Zivilrechts, in denen eine schnelle gerichtliche Entscheidung unabdingbar ist. Sicher, so manchen Zivilprozess bzw manche mündliche Verhandlung wird man auch um ein paar Wochen verschieben können, ohne dass davon gleich die Welt untergeht. Leben und Gesundheit der Verfahrensbeteiligten gehen vor, keine Frage.

Aber wenn zum Beispiel der Vermieter eigenmächtig das Schloss austauscht und den Mieter so aus der Mietwohnung aussperrt, muss dieser im Wege der einstweiligen Verfügung gerichtlich dagegen vorgehen können.

Und wenn Wettbewerber fremde Patente oder Urheberrechte verletzen, ist der Verletzte auch auf ein gerichtliches Eilverfahren (einstweilige Verfügung) angewiesen…

Da ließen sich beliebig viele weitere Beispiele aufzählen.

3. Wenn aber die Justiz, also vor allem die Gerichte, systemrelevant ist bzw sind, dann sind es auch die Anwälte.

a) Formal ließe sich dies damit begründen, dass der Anwalt „Organ der Rechtspflege“ ist. Aber gut, das ist in erster Linie eine Floskel.

b) Überzeugender sind vielleicht folgende Beispiele:

Im Strafverfahren hat der Angeklagte das unabdingbare Recht auf anwaltlichen Beistand. Ein Strafverfahren kann also nicht ohne den Verteidiger stattfinden.

Vor den Landgerichten, Oberlandesgerichten und dem Bundesgerichtshof herrscht bekanntlich Anwaltszwang. Vor diesen Gerichten können die Parteien also nicht selbst auftreten, sondern sind zwingend auf ihren anwaltlichen Vertreter angewiesen. Das zeigt schon, dass es auch in zivilrechtlichen Angelegenheiten nicht ohne Anwalt geht.

Und auch, wenn kein Anwaltszwang besteht, wird es doch unter praktischen Gesichtspunkten häufig kaum ohne Anwälte gehen. Nehmen wir beispielsweise ein Kündigungsschutzverfahren vor dem Arbeitsgericht. Gut, da könnte sich der Arbeitnehmer auch selber vertreten. Aber wäre er auch praktisch dazu in der Lage, die richtigen Anträge zu stellen? Ich stelle mir den Arbeitsrichter vor, der in der Verhandlung die Parteien erst einmal über das einschlägige Verfahrensrecht belehren soll. Da kann er schnell in den Verdacht der Befangenheit geraten, wenn er der einen Partei bei der Formulierung der Anträge mehr hilft als der anderen. Außerdem wäre der Verfahrensablauf ohne die vorbereitenden anwaltlichen Schriftsätze sicherlich stark beeinträchtigt.

Kann man nicht zumindest die außergerichtliche Tätigkeit, also anwaltliche Beratungen, einfach aufschieben? Zum Teil sicher. Aber wenn es um eine Patientenverfügung für einen Schwerkranken geht oder um das Aufsetzen eines (komplizierten) Testaments für einen 90-jährigen Unternehmer, wird das schon problematischer, gerade in Zeiten einer Pandemie.

c) Könnte man nicht differenzieren, also sagen: Der Strafverteidiger ist systemrelevant, der Vertragsrechtsanwalt dagegen nicht? Meines Erachtens ist eine solche Differenzierung nicht praktikabel.

Zum einen deshalb, weil viele Anwälte auch heute noch mehrere Rechtsgebiete bearbeiten, also/oder beispielsweise auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts sowohl eilbedürftige einstweilige Verfügungen bei Gesellschafterstreitigkeiten betreuen als auch möglicherweise aufschiebbare GmbH-Verträge gestalten.

Und zum anderen ist es einfach nicht handhabbar, im Hinblick auf denselben Anwalt dahingehend zu differenzieren, welche anwaltliche Tätigkeit er gerade vornimmt. Bei Ärzten differenziert man ja, wenn ich das richtig sehe, auch nicht danach, ob sie gerade eine unaufschiebbare Corona-Behandlung durchführen oder eher prophylaktisch tätig sind.

4. Fazit: Die Justiz (insbesondere Gerichte) ist (sind) zweifelsohne systemrelevant. Und da die Justiz ohne Anwälte, wie dargelegt, nicht ordnungsgemäß und effektiv funktionieren kann, sind auch Anwälte systemrelevant. Auch dann, wenn sie nicht wie Ärzte/Virologen unmittelbar Menschenleben retten.

Die Qualifizierung als sytemrelevant muss dann meines Erachtens auch für die Rechtsanwaltsfachangestellten gelten. Denn so manche Anwaltskanzlei würde nicht oder doch zumindest sehr viel schlechter funktionieren, wenn das Personal zu Hause bleibt, um die eigenen Kinder zu betreuen.

Das heißt umgekehrt aber auch nicht, dass man den Arzt und den Anwalt im Hinblick auf die Systemrelevanz zwingend absolut gleich behandeln muss. Der Spruch – „Feeling sick? Call your lawyer!“ – hat bekanntlich einen anderen Hintergrund…

5. Letzter Punkt: Zeiten der Pandemie sollten uns auch bewusst machen, welche Arbeiten und Leistungen wirklich wichtig sind. Also zahlen wir den (=allen) Beschäftigten im Gesundheitswesen ein vernünftiges Gehalt, anstatt ernsthaft darüber zu diskutieren, ob ein einzelner Fußballspieler 100 Mio Euro wert ist. Diese Summe wäre im Gesundheitswesen sicher besser angelegt!

Dr. Wolfgang Gottwald

Rechtsanwalt



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