Aktuelle Rechtsprechung im Sexualstrafrecht - Das Amtsgericht Kiel urteilt in einem Fall des sogenannten "Stealthing" - Freispruch

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Das Sexualstrafrecht dient dem Schutz der individuellen sexuellen Selbstbestimmung. Die Sexualmoral ist jedoch ebenso wie die gesetzlichen Normen und Rechtsprechungen im steten Wandel. So führte beispielsweise die Kölner Silvesternacht 2015/2016 mit allen Eindrücken und Ereignissen zur Einführung des sogenannten "Nein heißt Nein"-Grundsatzes. Am 10.11.2016 trat das Gesetz zur Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung in Kraft. Das Sexualstrafrecht ist komplex und wird nicht zuletzt durch die vorbenannte Gesetzesänderung immer strenger. 

Die Erfahrungen in der Strafverteidigung zeigen, dass bereits aus einer kopflosen Nacht ungeahnte Konsequenzen mit langatmigen, teilweise peinlich berührenden und vor allem sehr privaten Ermittlungsverfahren erwachsen können. Die Glaubwürdigkeit von Zeugen, welche sich aufgrund der zumeist Zwei-Personen-Verhältnisse auf einen sehr überschaubaren Kreis reduzieren, ist von immenser Bedeutung. So stehen sich das sogenannte Opfer und der oder die potentielle Täter/in gegenüber. 

Unter diesen Aspekten zieht eine aktuelle Rechtsprechung des Amtsgerichts Kiel vom 17.11.2020, Az. 38 Ds 559 Js 11670/18, besondere Aufmerksamkeit auf sich. Das Gericht hatte einen Sachverhalt zum Vorwurf des § 177 StGB (sexueller Übergriff; sexuelle Nötigung; Vergewaltigung) zu entscheiden. Letztendlich wurde der Angeklagte freigesprochen. 

Der Angeklagte soll zunächst einvernehmlichen, geschützten, vaginalen Sex mit der Zeugin gehabt haben. Diese Intimitäten wollte die Zeugin ausdrücklich nur unter Verwendung eines Kondoms mit dem Angeklagten austauschen. Während des sexuellen Aktes und trotz Kenntnis von dem entgegenstehenden Willen der Zeugin, hat sich der Angeklagte während des Aktes heimlich des Kondoms entledigt und ungeschützt Geschlechtsverkehr mit der Zeugin ausgeübt. Mangels Widerspruchs sei der Angeklagte davon ausgegangen, dass ungeschützter Geschlechtsverkehr für die Zeugin in Ordnung wäre. 

Dieses Verhalten wird unter dem Begriff des "Stealthing" subsumiert. Hierunter versteht man eine Form des Missbrauchs, bei der der Sexualpartner sein Kondom heimlich und ohne Einwilligung des anderen Partners entfernt und anschließend den Geschlechtsverkehr ausübt. Die Übertragung von Krankheiten und eine Schwangerschaft sind möglich. 

Das Gericht hat den Angeklagten aus rechtlichen Gründen freigesprochen. 

Der Sachverhalt würde schon objektiv nicht den Grundtatbestand des § 177 Abs. 1 StGB erfüllen. Die Vorschrift bestrafe denjenigen, der gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser vornehme. Diese Voraussetzungen seien hier nicht erfüllt. der Angeklagte habe nicht gegen den Willen der Zeugin den Geschlechtsverkehr vollzogen. Der Widerwille im Sinne des § 177 Abs. 1 StGB beziehe sich allein auf die sexuelle Handlung, hier des vaginalen Geschlechtsverkehrs, mit dem die Zeugin ausdrücklich einverstanden gewesen sei. Das Überziehen des Kondoms sei bei isolierter Betrachtung keine sexuelle Handlung, sondern diene der Vorbereitung solcher. Der Geschlechtsverkehr mit und ohne Kondom sei auch nach dem natürlichen Sprachempfinden eine Einheit. Würde jemand nach dem Geschlechtsverkehr gefragt, was er just getan habe, würde er antworten, er habe Geschlechtsverkehr gehabt, und nicht, er habe Geschlechtsverkehr mit oder ohne Kondom gehabt. Die sexuelle Handlung sei dem Sprachsinn nach stets der Geschlechtsverkehr, unabhängig davon, ob mit oder ohne Kondom. 

Die Rechtsprechung steht unter Kritik. Unter der Differenzierung, dass es geschützten und ungeschützten Geschlechtsverkehr gibt, begründet auch das Stealthing einen Verstoß gegen die sexuelle Selbstbestimmung. 

Eine Tatbestandsverwirklichung sah so auch das Kammergericht Berlin. Dieses hat einen ähnlichen Sachverhalt in dritter Instanz mit acht Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung und einer Schadensersatzzahlung von 3.000,00 € bestätigt. 

Der zuständige Richter in Kiel eröffnete nicht einmal die Beweisaufnahme, die Zeugin wurde so nicht vernommen. Sowohl die Zeugin, welche gleichzeitig auch als Nebenklägerin auftrat und die Staatsanwaltschaft legten Revision ein. Der Ausgang des Rechtsmittels bleibt abzuwarten.


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