Aussage gegen Aussage im Strafrecht – Wie Gerichte entscheiden und was Beschuldigte wissen müssen
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Inhaltsverzeichnis
- Wann liegt eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation vor?
- Keine Beweise – keine Verurteilung? Leider nein.
- In dubio pro reo – aber wie viel Zweifel sind genug?
- Die Bedeutung der Aussageanalyse
- Typische Fehler in Aussagen – und ihre Wirkung
- Verteidigung in Aussagekonstellationen – was sofort zählt
- Typische Fallgruppen: Wo Aussage gegen Aussage eine Rolle spielt
- Die Beweiswürdigung: Kein Schema F – aber klare Anforderungen
- Aussagepsychologie vor Gericht
- Fehlurteile und Verurteilungen ohne Beweise: Realität oder Mythos?
- Wann reicht eine Aussage nicht aus?
- Der erste Schritt: Frühzeitig erkennen, was auf dem Spiel steht
- Die Strategie: Warum Schweigen keine Schwäche ist
- Aussagepsychologie hinterfragen – und nicht „blind glauben“
- Umgang mit Medien und öffentlicher Meinung
- Indizien richtig einordnen – oder gezielt entkräften
- Die Rolle der Verteidigung: Mehr als nur „nicht schuldig sagen“
- Was Angehörige tun können – und was nicht
- Reale Risiken – reale Chancen
Ob Sexualdelikt, häusliche Gewalt oder Körperverletzung – in vielen Strafverfahren gibt es keine Zeugen, keine Beweise, keine Aufnahmen. Nur zwei Versionen der Wahrheit: Die der mutmaßlich geschädigten Person – und die des Beschuldigten.
Das ist kein Einzelfall, sondern ein Massenphänomen in der strafrechtlichen Praxis. Für Beschuldigte ist die Unsicherheit oft belastend: Kann man allein durch eine Aussage verurteilt werden? Was, wenn „sie lügt“? Und was, wenn „mir keiner glaubt“?
Die Antwort: Eine Verurteilung ist möglich – aber an hohe Anforderungen gebunden. In diesem Artikel erkläre ich, wie Gerichte in diesen Situationen vorgehen, wie sie die Wahrheit ermitteln – und wie eine kluge Verteidigung aufgebaut wird.
Wann liegt eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation vor?
Im juristischen Sinne spricht man von einer solchen Konstellation, wenn die Hauptbeweise im Strafprozess ausschließlich aus zwei widersprüchlichen Aussagen bestehen:
Aussage des angeblichen Opfers
Aussage des Beschuldigten
Keine weiteren Personen haben etwas beobachtet. Keine objektiven Spuren (wie DNA, Videoaufnahmen, Nachrichten) liegen vor oder werden als nicht aussagekräftig bewertet.
Typische Anwendungsbereiche:
Sexualstrafrecht (§ 177 StGB)
Bedrohung (§ 241 StGB)
Körperverletzung (§ 223 StGB)
Nötigung (§ 240 StGB)
Stalking (§ 238 StGB)
Keine Beweise – keine Verurteilung? Leider nein.
Ein weit verbreiteter Irrtum: „Ohne Beweise kann man mich nicht verurteilen.“
In Wahrheit kann jede Aussage ein Beweismittel sein.
Das heißt: Auch eine einzelne belastende Aussage kann zur Verurteilung führen – wenn sie das Gericht überzeugt.
In dubio pro reo – aber wie viel Zweifel sind genug?
Der Grundsatz in dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten – bleibt auch hier gültig. Doch dieser „Zweifel“ muss substanziell sein. Ein bloßes Unwohlsein des Richters reicht nicht. Vielmehr muss nach § 261 StPO eine Überzeugung von der Täterschaft vorliegen.
Die Richter entscheiden im Rahmen der freien Beweiswürdigung. Das bedeutet: Sie können aus jeder Quelle Beweise schöpfen – müssen aber auch jede Aussage kritisch prüfen.
Die Bedeutung der Aussageanalyse
Wenn keine weiteren Beweismittel vorliegen, richtet sich der Fokus des Gerichts zwangsläufig auf die Aussage des mutmaßlichen Opfers. Diese wird einer intensiven Glaubhaftigkeitsanalyse unterzogen.
Unterschieden wird zwischen:
Glaubwürdigkeit der Person: Ist sie allgemein vertrauenswürdig?
Glaubhaftigkeit der Aussage: Ist die konkrete Aussage logisch, in sich schlüssig, frei von Widersprüchen?
Was macht eine Aussage glaubhaft?
Die Aussage sollte:
Detailreich, ohne erkennbares Auswendiglernen erfolgen
Innere Widerspruchsfreiheit aufweisen
Auch belastende oder unklare Punkte enthalten (keine „perfekte Geschichte“)
Erinnerungslücken enthalten – echte Aussagen sind nie lückenlos
Nicht übertrieben dramatisieren – emotionale Überladung kann kritisch sein
Typische Fehler in Aussagen – und ihre Wirkung
Selbst glaubwürdige Menschen können in ihren Aussagen Fehler machen. Doch nicht jeder Widerspruch entkräftet eine Aussage vollständig. Entscheidend ist:
Ist der Widerspruch zentral für die Tatfrage?
Ist er erklärbar (Stress, Traumatisierung, Zeitverlauf)?
Wie reagiert die Person auf Rückfragen?
Verteidigung in Aussagekonstellationen – was sofort zählt
Die erste Reaktion als Beschuldigter ist oft entscheidend. Häufige Fehler:
Unüberlegte Aussagen bei der Polizei
Verzicht auf anwaltliche Beratung
Emotionale Rechtfertigungen statt gezielter Verteidigung
Eine kluge Verteidigung beginnt mit Schweigen – und einer strukturierten Analyse der Aussage der Gegenseite.
Typische Fallgruppen: Wo Aussage gegen Aussage eine Rolle spielt
1. Sexualdelikte (§ 177 StGB)
Hier sind Aussagekonstellationen besonders häufig. Die Gerichte verlangen bei alleiniger Aussage des mutmaßlichen Opfers eine nachvollziehbare, detailreiche und widerspruchsfreie Darstellung, oft gestützt durch aussagepsychologische Gutachten.
Beispiel: Vergewaltigung in Partnerschaft
Keine Zeugen, keine Spuren. Aussage der Frau mit klarer Chronologie, konsistent über Monate. Aussagepsychologisches Gutachten: Realkennzeichen liegen vor. Ergebnis: Verurteilung.
2. Körperverletzung im sozialen Nahbereich (§ 223 StGB)
Zunehmend relevant bei häuslicher Gewalt. Problematisch: Eskalation bei gegenseitiger Schuldzuweisung.
Beispiel: Beide Partner behaupten, vom anderen geschlagen worden zu sein. Keine Zeugen. Eine Aussage ist chronologisch wirr, enthält Widersprüche zur ärztlichen Dokumentation. Ergebnis: Freispruch mangels Überzeugung.
3. Bedrohung und Beleidigung (§§ 185, 241 StGB)
Oft Aussagen über Telefon, WhatsApp oder im privaten Umfeld – ohne Aufzeichnung. Hier entscheidet oft die Glaubhaftigkeit.
4. Verleumdung (§ 187 StGB)
Wenn jemand beschuldigt wird, falsche Behauptungen zu sexuellen Übergriffen oder Gewalt aufgestellt zu haben, kann sich aus einer ursprünglichen Aussagekonstellation eine zweite – umgekehrte – entwickeln.
Die Beweiswürdigung: Kein Schema F – aber klare Anforderungen
Die Beweiswürdigung ist nach § 261 StPO Richtersache – aber nicht willkürlich. Das Gericht muss nachvollziehbar darlegen:
Wie wurde der Wahrheitsgehalt der Aussage geprüft?
Wurden alternative Erklärungen in Betracht gezogen?
Gibt es Anzeichen für eine Belastungstendenz?
Welche Rolle spielen Zeitablauf, Drucksituationen oder emotionale Faktoren?
Eine unzureichende oder schematische Begründung kann mit der Revision angefochten werden.
Aussagepsychologie vor Gericht
In komplexen Fällen, insbesondere im Sexualstrafrecht oder bei Kindern, greifen Gerichte auf aussagepsychologische Gutachten zurück. Der Gutachter prüft z. B.:
Wie ist die Aussage strukturiert?
Gibt es Spontanerinnerungen oder nur abrufbare Schemata?
Ist der Aussageinhalt erlebnisbasiert oder gelernt?
Wurden suggestive Fragen gestellt?
Vorsicht für die Verteidigung: Diese Gutachten sind nicht neutral, sondern oft zugunsten der Glaubhaftigkeit ausgerichtet. Sie müssen daher aktiv geprüft und ggf. durch eigene Sachverständige hinterfragt werden.
Fehlurteile und Verurteilungen ohne Beweise: Realität oder Mythos?
Es gibt zahlreiche dokumentierte Fälle, in denen Menschen aufgrund einer einzigen belastenden Aussage verurteilt wurden – auch wenn sich später ihre Unschuld herausstellte.
Aussage gegen Aussage ist ein hochempfindlicher Bereich. Fehler in der Beweiswürdigung, voreilige Überzeugungen oder suggestive Vernehmungen können zu Fehlurteilen führen.
Wann reicht eine Aussage nicht aus?
Oft erfolgt keine Verurteilung, wenn:
Die Aussage widersprüchlich oder erkennbar gesteuert ist
Die Person ein erkennbares Motiv zur Falschaussage hat
Es keine unabhängige Absicherung durch Indizien gibt
Die Beweiswürdigung nicht tragfähig begründet wird
Der erste Schritt: Frühzeitig erkennen, was auf dem Spiel steht
In Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen entscheidet sich viel bereits in den ersten Tagen des Verfahrens. Beschuldigte sind oft emotional, überfordert, reden zu viel – und begehen damit irreparable Fehler.
Die wichtigste Maßnahme: Keine Einlassung ohne Akteneinsicht.
Wer ohne Verteidiger zur Polizei geht, verzichtet auf das wichtigste Instrument der Strafverteidigung: die Kontrolle über das Verfahren.
§ 137 Abs. 1 StPO: „Der Beschuldigte kann sich in jeder Lage des Verfahrens des Beistandes eines Verteidigers bedienen.“
Die Strategie: Warum Schweigen keine Schwäche ist
Viele Beschuldigte glauben, sie müssten sofort etwas sagen, um „alles richtigzustellen“.
Aber in einer Aussagekonstellation ohne objektive Beweise ist jede Aussage ein Risiko. Selbst gut gemeinte Erklärungen können:
widersprüchlich wirken
später fehlinterpretiert werden
durch spätere Gutachten „unlogisch“ erscheinen
Die Verteidigung muss daher in drei Schritten vorgehen:
Akteneinsicht und Analyse
Bewertung der Belastungsaussage (inkl. möglicher Motive)
Entscheidung über Aussageverhalten oder schriftliche Einlassung
Aussagepsychologie hinterfragen – und nicht „blind glauben“
Ein häufiges Missverständnis: Aussagen von Kindern, Frauen oder mutmaßlichen Opfern gelten als „unantastbar“.
Falsch. Jede Aussage muss geprüft werden – auch wenn sie schmerzhaft, emotional oder schockierend ist.
Was Verteidigung hinterfragen sollte:
Gab es suggestive Vernehmungen?
Wer hat wann mit wem gesprochen?
Welche äußeren Einflüsse (Medien, Familie, Polizei) bestanden?
Wurden Erinnerungslücken überbrückt oder Lücken „geschlossen“?
Bei Gutachten: Gegengutachten prüfen, eigene Sachverständige hinzuziehen, Fehlerquellen analysieren.
Umgang mit Medien und öffentlicher Meinung
In Sexual- oder Gewaltdelikten steht oft schnell ein Vorverurteilungsdruck im Raum – vor allem, wenn Medien berichten oder soziale Netzwerke reagieren. Die Verteidigung muss hier:
Mandanten auf kommentarloses Verhalten vorbereiten
gegebenenfalls Pressemitteilungen neutral halten
sich auf das Verfahren konzentrieren, nicht auf Meinungsschlachten
Indizien richtig einordnen – oder gezielt entkräften
Viele Aussagekonstellationen werden durch vermeintliche „Indizien“ gestützt:
Chats
ärztliche Atteste
Verhaltensauffälligkeiten
frühere Streitigkeiten
Verteidiger müssen klären:
Ist das Indiz wirklich tatbezogen?
Gibt es alternative Erklärungen?
Ist es überhaupt gerichtlich verwertbar?
Beispiel: WhatsApp-Nachricht „Du bist krank!“ – Wird oft als „Beweis“ für eine vorangegangene Tat gewertet. Tatsächlich aber: Ausdruck von Wut, nicht zwingend Geständnis.
Die Rolle der Verteidigung: Mehr als nur „nicht schuldig sagen“
Verteidigung in Aussagekonstellationen erfordert:
Kenntnis der aktuellen Rechtsprechung
Erfahrung mit Aussageanalyse
Mut zur Offenlegung von Widersprüchen
Struktur in der Vernehmungsbegleitung
Entscheidungssicherheit: Wann schweigen? Wann sprechen?
Und vor allem: Die Bereitschaft, sich gegen die Annahmen des Gerichts zu stellen, wenn diese auf unsicherer Grundlage beruhen.
Was Angehörige tun können – und was nicht
Viele Mandanten werden vom Umfeld unter Druck gesetzt: „Sag doch, dass du’s nicht warst!“ oder „Du musst dem Richter in die Augen schauen!“
Das Problem: Emotionale Reaktionen helfen nicht – sie schaden oft.
Besser: Angehörige sollten
keine Aussagen gegenüber der Polizei machen
den Mandanten nicht zur Aussage drängen
Diskretion wahren
und im Zweifel: rechtlichen Beistand organisieren
Reale Risiken – reale Chancen
Verurteilungen ohne Beweise sind möglich – aber nicht beliebig. Aussagekonstellationen sind schwer zu führen, auch für Staatsanwaltschaft und Gericht.
Für die Verteidigung bedeutet das:
Wer Ruhe bewahrt, die Aussageanalyse versteht und strategisch agiert, kann selbst aussichtslos wirkende Verfahren drehen.
Als Strafverteidiger unterstütze ich Sie in allen Phasen des Verfahrens und setze mich für Ihre Rechte ein. Wenn Sie sich in einer solchen schwierigen Situation befinden, ist es entscheidend, schnell und strategisch zu handeln. Lassen Sie uns gemeinsam Ihre Verteidigung aufbauen.

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