BLEIFUSS MIT FOLGEN

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Eine allzu häufige Situation: Ein Autofahrer wechselt den Fahrstreifen und es kommt zum Unfall mit einem dort fahrenden Fahrzeug. In der Regel haftet der Spurwechsler bei solchen Unfällen allein, die Betriebsgefahr des anderen Fahrzeugs tritt zurück. Das OLG München hat mit Urteil vom 1. Juni 2022 (Az: 10 U 7382/21 e) einen Fall entschieden, in dem dieses Ergebnis anders ausfiel. Hinsichtlich des bereits auf der Spur fahrenden Fahrzeugführers nahm es eine Mithaftung von 25 % an. 

Das liegt dem Fall zugrunde

Am 19.08.2019 kollidierte der auf der linken Spur fahrende Kläger auf der Autobahn mit dem Wohnmobil des Beklagten zu 1. Der Beklagte hatte einen Spurwechsel nach links eingeleitet, in diesem Zusammenhang kam es zum Unfall. Der Kläger wiederum war mit hoher Geschwindigkeit unterwegs, am Unfallort gab es jedoch keine Geschwindigkeitsbegrenzung. Der Kläger verlangte in der Folge Schadensersatz von dem Beklagten zu 1 und dessen ebenfalls verklagtem Kfz-Haftpflichtversicherer (Beklagter zu 2).

Das LG München I ging in erster Instanz von einer Alleinhaftung der Beklagten aus. Der Beweis des ersten Anscheins spreche für ein grobes Verschulden des Beklagten zu 1 beim Spurwechsel. Dahinter trete die Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs vollständig zurück. Die Entscheidung erging ohne mündliche Verhandlung im schriftlichen Verfahren. Die Vernehmung eines von den Beklagten angebotenen Zeugen für das Fahrverhalten des Klägers erfolgte nicht. Insbesondere dies und die angenommene Alleinhaftung rügten die Beklagten mit der Berufung.

Abänderung in der Berufungsinstanz

Das OLG München änderte das Urteil nun teilweise ab. Es ging nicht von einer Alleinhaftung der Beklagten aus. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) vermochte es jedoch nicht festzustellen.

Die Entscheidung im schriftlichen Verfahren erfolgte mit dem Einverständnis der Parteien. In der Berufungsbegründung seien keine Angaben gemacht worden, welchen Mehrwert eine mündliche Anhörung der Parteien gebracht hätte. Es sei nicht vorgetragen worden, was bei der Anhörung abweichend von dem Vortrag in den Schriftsätzen entscheidungserheblich vorgebracht worden wäre. Die Ausführungen im Urteil belegten auch, dass das Gericht sich hinreichend mit dem wechselseitigen Vorbringen auseinandergesetzt hat.

Unterbliebene Zeugenvernehmung unerheblich

Auch die ausgebliebene Zeugenvernehmung begründe keine Verletzung des rechtlichen Gehörs. Nach Ansicht des OLG war in diesem konkreten Fall ausgeschlossen, dass der Zeuge sachdienliche Angaben hätte machen können. Der angebotene Zeugenbeweis sei daher ungeeignet gewesen.

Zum einen seien Geschwindigkeitsschätzungen von Dritten immer mit Unsicherheiten belastet. Zum anderen handele es sich nicht um einen Zeugen des konkreten Unfalls. Der Zeuge hätte nur Angaben über das Fahrverhalten des Klägers vor dem Unfall machen können. Selbst ein als tatsächlich erfolgt unterstelltes Rechtsüberholen vor dem Unfall sei hier unerheblich, da der Kläger zeitlich deutlich vor der Kollision mit dem Beklagten zu 1 wieder auf der linken Spur gefahren sei. Der Kläger sei für den Beklagten bei einer Rückschau unmittelbar vor dem Spurwechsel erkennbar gewesen. Dies ergebe sich schon aus der Schilderung der Beklagten und auf der Basis des eingeholten Sachverständigengutachtens. Der Unfall hätte demnach bei Anwendung der entsprechenden Sorgfalt durch den beklagten Fahrzeugführer verhindert werden können.

Anscheinsbeweis bei Spurwechsel

Da der Unfall weder durch höhere Gewalt verursacht wurde noch unvermeidbar war, ist die Ersatzpflicht abhängig von Verursachungsbeiträgen der Beteiligten. Für den Spurwechsler gilt ein Höchstmaß an Sorgfaltspflicht. Die Spur darf nur gewechselt werden, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Da die Kollision in unmittelbarem zeitlichem und örtlichem Zusammenhang mit dem Spurwechsel erfolgte, sei mit dem Anscheinsbeweis davon auszugehen, dass der Beklagte zu 1 gegen diese gesteigerten Sorgfaltspflichten in erheblichem Maße verstoßen hat. Einen solch schuldhaften Verstoß habe der Sachverständige überdies bestätigt.

Eine Mithaftung des anderen Unfallbeteiligten komme dennoch in Betracht, wenn diesem Umstände nachgewiesen werden, die ein Mitverschulden belegen. Ein schuldhafter Sorgfaltsverstoß konnte dem Kläger hier jedoch nicht nachgewiesen werden. Insbesondere lag kein Verstoß gegen § 3 Abs. 3 StVO vor wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung. An der fraglichen Stelle auf der Autobahn gab es keine Geschwindigkeitsbegrenzung.

Mithaftung wegen erhöhter Betriebsgefahr

Die erhebliche Überschreitung der Richtgeschwindigkeit führe jedoch zu einer erhöhten Betriebsgefahr, die auf Seiten des schuldlosen Unfallbeteiligten zu berücksichtigen sei. Nach den Ausführungen des Sachverständigen betrug die Kollisionsgeschwindigkeit des Klägers ca. 200 km/h, damit 70 km/h mehr als die Richtgeschwindigkeit. Mit dieser Überschreitung habe der Kläger die Gefahr vergrößert, dass sich ein anderer Verkehrsteilnehmer nicht auf diese Fahrweise einstellt. Insbesondere komme es immer wieder zu Fehleinschätzungen hinsichtlich der Geschwindigkeit eines herannahenden Fahrzeugs. So vergrößere sich auch die Gefahr, dass sich Verkehrsteilnehmer beim Fahrstreifenwechsel nicht auf die Geschwindigkeit anderer Fahrzeuge einzustellen vermögen. Das Fehlen von Sanktionen hinsichtlich der Überschreitung der Richtgeschwindigkeit bedeute nicht, dass dies für das Haftungsrecht irrelevant wäre.

Das OLG erachtete daher eine Mithaftung des Klägers in Höhe von 25 % für angemessen.

Foto(s): Shutterstock.com

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