BVerfG zur Triage - eine Einschätzung

  • 6 Minuten Lesezeit

Am heutigen Tage (28.12.2021) hat das Bundesverfassungsgericht seinen Beschluss vom 16.12.2021 zur Triage veröffentlicht (Aktenzeichen  1 BvR 1541/20). Hierbei hat es aus Art. 3 GG, dem Gleichheitsgrundsatz, hergeleitet, dass der Gesetzgeber selbst mittels Gesetz das System der medizinischen Triage zu regeln habe. Dabei muss er hinreichenden Schutz vor Diskriminierung aufgrund von Behinderungen bieten.

Sachverhalt

Der Sachverhalt ist schnell erklärt: geklagt hatten mehrere Menschen, die an geistigen und / oder körperlichen Behinderungen litten. Sie befürchteten, aufgrund ihrer Behinderungen im Falle einer Triage - gemeint war der Kampf um die Verteilung von Intensivbetten - benachteiligt werden zu können. Schließlich werde in einer solchen Situation die Auswahl primär nach den Erfolgsaussichten einer Behandlung getroffen. Bemängelt wurde zu alledem, dass gesetzliche Vorgabe für eine derartige Verfahrensweise nicht bestünden. Vielmehr handele es sich um Leitlinien, Empfehlungen von Fachverbänden o.ä.. Der Gesetzgeber müsse derart wichtige Entscheidungen selbst treffen. Deshalb wurde Verfassungsbeschwerde erhoben.

Zu alledem wurde ein Eilantrag gestellt. Mit diesem sollte das Gericht schon eine schnelle Vorabentscheidung treffen. Der Eilantrag wurde jedoch mangels Eilbedürftigkeit mit Beschluss vom 16.07.2020 zurückgewiesen. Schließlich sei zum damaligen Zeitpunkt nicht absehbar gewesen, dass tatsächlich zeitnah eine solche Knappheit an Betten eintreten würde, dass es zur Anwendung des Triage-Systems komme. Letztlich wurden sodann im Verfahrensverlauf mehrere Expertengremien angehört und sodann die 37-seitige Entscheidung getroffen.

Ergebnis

In dieser gab das Bundesverfassungsgericht der Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführer statt. Es verpflichtet den Gesetzgeber unverzüglich dazu, Vorkehrungen darüber zu treffen, damit niemand aufgrund einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehender intensivmedizinischer Ressourcen benachteiligt wird. Weil er dies bislang unterlassen habe, habe er Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG ("Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.") verletzt.

Begründung

Das Bundesverfassungsgericht leitet zunächst aus dieser Vorschrift ab, dass sich für den Staat hieraus ein Schutzauftrag gegenüber seinen Bürgern ergebe. Dieser Schutzauftrag wiederum verdichte sich im hiesigen Fall zu einer konkreten Handlungspflicht des Gesetzgebers. Es eröffnet damit eine zusätzlich Schutzdimension des Gleichheitsgrundsatzes aus Art. 3 GG. Eine derartige Schutzpflicht bestehe vor allem dann, wenn es um überragende Rechtsgüter - wie vorliegend das Leben - geht.

Allerdings bleibt auch beim BVerfG nicht ungeachtet, dass dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung ein entsprechender Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zukommen muss. Um diesen konnte es im vorliegenden Fall jedoch nicht gehen, weil bislang überhaupt kein gesetzlicher Rahmen bestand.

Das Risiko im Falle einer Triage diskriminiert zu werden, hat das Gericht bejaht und hierbei wohl insbesondere die Stellungnahmen der angehörten Experten berücksichtigt. Die Handlungsempfehlungen der DIVI (Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin) sei wiederum nicht rechtsverbindlich und lediglich Indiz, nicht aber Synonym für einen bestimmten medizinischen Standard. Auch sei nicht ausgeschlossen, dass diese Empfehlungen zum Einfallstor für Diskriminierungen würden.

Einschätzung

Wenn man den aus dem Jurastudium bekannten Grundsatz in den Vordergrund stellt, dass der Gesetzgeber wichtige Angelegenheiten selbst (und dann per Gesetz) zu regeln hat, kann man die Wertung des BVerfG nachvollziehen. Ebenso nachvollziehbar erscheint, dass der Eilantrag verworfen wurde. Die Behandlungskapazitäten im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie waren nicht knapp, sind nicht knapp und werden es hoffentlich auch niemals werden.

Eine praktische Relevanz ergibt sich unmittelbar zunächst lediglich für den Gesetzgeber. Er muss nunmehr wohl in einer Art "Triage-Gesetz" nähere Regelungen über dieses Vorgehen erlassen. Und hier dürften dann auch die Probleme beginnen:

- Angefangen mit der Frage, was überhaupt unter dem Begriff der Triage gemeint sein soll? Das ist im Hinblick auf die alltäglich gelebte medizinische Praxis nämlich keineswegs klar! Auch das BVerfG hat sich in seiner Entscheidung mit der Begrifflichkeit nicht tiefergehend befasst. Der Begriff selbst kommt aus dem Französischen und meint "Auswählen" / "Sortieren" oder auch "Sichten". Das BVerfG versteht darunter aber offenbar lediglich die mögliche Situation, dass viele Menschen ein Intensivbett benötigen, aber nur wenige zur Verfügung stehen und daher eine Auswahlentscheidung getroffen werden müsse.

Diese Auffassung verkennt jedoch die medizinische Praxis. Im Rettungsdienst wird regelmäßig "triagiert", nämlich bei jedem größeren Unfallereignis, wenn es mehr Patienten gibt, als das ersteintreffende Einsatzfahrzeug behandeln kann. Im Krankenhaus wird in den Notaufnahmen ebenfalls gerne auf das sogenannter Manchester Triage System zurückgegriffen. Das ist insofern konsequent, als dass auch in der Notaufnahme, die für viele Menschen mit (vermeintlichen) Notfällen die erste Anlaufstelle ist, schnell ein Mangel an Behandlungskapazitäten herrscht. Dann aber ist das Personal gezwungen, aufgrund medizinischer Dringlichkeit zu priorisieren. Und dies wiederum führt dazu, dass der Herzinfarkt sofort behandelt wird, während der/die Patient:in mit Schmerzen im Arm nach Insektenstich ein paar Stunden warten muss... Auch dies stellt wiederum eine Form der Triage dar! Es sollte daher beobachtet werden, wer den Begriff der Triage in welchem Zusammenhang verwendet, sonst redet man schnell aneinander vorbei!

- Weiter geht es mit der Frage danach, für wen die Regelungen eines kommenden Triage-Gesetzes alles gelten sollen? Nur für die Intensivstation? Oder auch die Notaufnahme? Oder vorgelagert auch schon für den Rettungsdienst bei Verkehrsunfällen mit mehr als zwei Verletzten? Auch für den Katastrophenschutz, der zum nächsten Großunglück ausrückt? Diese gesamten Systeme arbeiten höchst unterschiedlich, haben unterschiedlich viel Zeit sich um Behandlung und Anamnese zu kümmern und maßgebliche Infos über den Patienten zu beziehen - da macht es eben einen Unterschied, ob man sich noch vor Ort an der Unfallstelle mit all ihren Gefahren befindet oder schon erstversorgt innerhalb einer Klinik. Das müsste das kommende Gesetz zwingend berücksichtigen!

- Wie hoch wird der zusätzliche Dokumentationsaufwand sein, der aus dem Gesetz folgt? Immerhin geht es um die Rechtfertigung, warum ein bestimmter Mensch einem anderen gegenüber bevorzugt wird, verbunden damit, dass der benachteiligte hierfür mit seinem Leben zahlen könnte. Es darf insofern erwartet werden, dass eine derartige Entscheidung ausführlich begründet und damit entsprechend dokumentiert werden muss. Für eine derartige Dokumentation wird jedoch in Anbetracht der Lebensbedrohlichkeit und der möglichen Vielzahl an hilfsbedürftigen Personen keine hinreichende Zeit bestehen. Man darf gespannt sein, wie dieses Dilemma gelöst werde soll!

- Wie hoch ist die Bedeutung für die angedachte Praxis? Eine Pandemie ist kein großer Unfall! Sie zeichnet sich nicht dadurch aus, dass es auf einen Schlag viele Patienten gibt, die intensivmedizinischer Behandlung bedürfen. Das war beispielsweise bei der Loveparade in Duisburg völlig anders: dort gab es nach dem Gedränge auf einen Schlag rund 500 Verletzte, die es zunächst an Ort und Stelle und im zweiten Schritt in den umliegenden (und bei dieser Verletztenzahl auch weiter entfernten) Kliniken zu versorgen galt. In der Pandemie erscheinen die Patienten peu à peu, über einen langen Zeitraum verteilt. Zeichnet sich nun bei einem Patienten, der gerade vor Ort ist, intensivmedizinischer Behandlungsbedarf ab, wird er das einzig freie Intensivbett bekommen. Man wird es ihm nicht für einen Patienten vorenthalten, von dem man noch garnicht weiß, ob, wann und unter welchem Erkrankungsbild er kommt. Wenn das Bett aber nun belegt ist, wird man keine Triage dahingehend mehr durchführen, als dass man eine bereits begonnene Behandlung wieder abbricht, weil jemand "höher triagiertes" erschienen ist - oder etwa doch? Wenn man mit den bisherigen Meinungen davon ausgeht, dass eine begonnene Behandlung nicht aus derartigen Gründen beendet werden darf, sondern man vielmehr gezwungen ist, sie fortzuführen, bis sie nicht mehr notwendig ist, dann wird es die befürchtete Triage aufgrund der Pandemie eher nicht geben, solange nicht mindestens zwei Patienten gleichzeitig um dasselbe Bett streiten. Dann aber wäre die oben beschriebene Problematik vor allem theoretischer Natur ohne praktische Bedeutung... Zwar mag aufgrund der überragenden Bedeutung der Rechtsgüter Leben und Gesundheit ein Triage-Gesetz immernoch nützlich sein - aber nicht für den angedachten Zweck...



Rechtstipp aus den Rechtsgebieten

Artikel teilen:


Sie haben Fragen? Jetzt Kontakt aufnehmen!

Weitere Rechtstipps von Rechtsanwalt Christopher Tackenberg

Beiträge zum Thema