Darf man bei jedem Schaden einen Gutachter beauftragen oder gibt es eine Bagatellgrenze?

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Wer unverschuldet in einen Verkehrsunfall verwickelt wurde, hat u.a. das Recht, die Schäden am Fahrzeug von einem Gutachter feststellen zu lassen. Die Kosten für ein solches Gutachten sind grundsätzlich von der gegnerischen Versicherung zu erstatten (vgl. § 249 Abs. 2 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch).

Wie so oft versuchen auch hier die Versicherungen, die Position als nicht erstattungsfähig zu qualifizieren. Dabei berufen sie sich gerne auf die (zu) geringe Schadenshöhe, weswegen ein Gutachten nicht erforderlich gewesen sei bzw. die Kosten außer Verhältnis zum festgestellten Schaden stünden. Eine solche sogenannte Bagatellgrenze gibt es tatsächlich – deren Höhe ist allerdings nicht fix, sondern es kommt auf den Einzelfall an.

Bagatellgrenze: welche Höhe ist angemessen?

Im Jahr 2004 hatte der Bundesgerichtshof (BGH) entschieden, dass eine festgestellte Schadenshöhe von ca. 750 EUR ausreicht, um die Beauftragung eines Sachverständigen zu rechtfertigen (BGH, Urteil v. 30.11.2004, Az.: VI ZR 365/03). Seitdem sahen die Amts- und Landgerichte Gutachterkosten als erstattungsfähig an, sofern der Schaden am Fahrzeug bei mindestens ca. 750 bis 800 EUR liegt. Seit einiger Zeit ziehen die Gerichte die Grenze allerdings eher bei 1.000 EUR. Das ist insofern verständlich, als dass ein Unfallschaden von 750 EUR heutzutage eher als (zu) gering anzusehen ist als vor 18 Jahren. Heute reicht oft schon ein kaputtes Blinkerglas oder ein lädierter Außenspiegel, um diesen Rahmen zu sprengen.

Die Schadenshöhe allein ist aber nicht ausschlaggebend dafür, ob Gutachterkosten zu erstatten sind oder nicht. Gerade bei Schäden im Grenzbereich zwischen 800 und 1.000 EUR ist immer auch der konkrete Einzelfall zu berücksichtigen.

Es kommt auf den Einzelfall an

So hat sich das Amtsgericht (AG) Nürnberg mit einem Fall auseinandergesetzt, in dem sich ein Unfall in Schrittgeschwindigkeit ereignet hatte (AG Nürnberg, Urteil v. 06.06.2019, Az.: 18 C 2692/19). Durch das zurücksetzende Fahrzeug des Unfallverursachers war die vordere Stoßstangenverkleidung des beschädigten Fahrzeugs eingedrückt worden. Weitere erhebliche Schäden waren zwar wegen der geringen Geschwindigkeit unwahrscheinlich, aber eben nicht ausgeschlossen. Das Gericht ging daher davon aus, dass unter der Verkleidung ein Schaden entstanden sein könne, der einem Laien verborgen bliebe. Es habe hier der Beurteilung durch einen Sachverständigen bedurft, um weitere Schäden festzustellen bzw. auszuschließen. Die Erforderlichkeit eines Gutachtens bestimme sich immer aus Sicht des Geschädigten vor Beauftragung des Gutachters. Obwohl der dann festgestellte Schaden bei „nur“ ca. 870 EUR lag, waren die Gutachterkosten nach Ansicht des Gerichts zu erstatten.

Ähnlich gelagert war auch ein Fall des AG Wolfenbüttel. Dabei ging es um einen Schaden an einer Anhängerkupplung. Auch hier war von außen für den geschädigten Laien nicht erkennbar, ob die Anhängerkupplung selbst noch stabil war bzw. ob sich von außen wirkende Kräfte auf den Wagenboden übertragen haben und der Schaden somit jenseits der 1.000-Euro-Grenze liegen würde. Das Gericht betrachtete daher das eingeholte Sachverständigengutachten als erforderlich (AG Wolfenbüttel, Urteil v. 08.05.2018, Az.: 17 C 270/17).

Unterhalb der Bagatellgrenze: Kurzgutachten

Wird die Bagatellgrenze voraussichtlich nicht erreicht, kann der Geschädigte dennoch einen Sachverständigen zurate ziehen. Er darf allerdings kein Vollgutachten beauftragen, sondern zunächst lediglich eine Kostenkalkulation. Ein solches sogenanntes Kurzgutachten enthält einige wenige Bilder nebst Schadensprognose. Der Preis dafür sollte der Situation angemessen sein und bei etwa 70 bis 100 EUR liegen. In diesen Fällen muss die gegnerische Haftpflichtversicherung diese Kosten erstatten.

Folgen für die Praxis

Fakt ist, dass der Geschädigte unabhängig von der Schadenshöhe nach einem Unfall einen Gutachter beauftragen darf. Ist allerdings konkret damit zu rechnen, dass der festgestellte Schaden unterhalb der 1.000-EUR-Grenze liegen wird, sollte man sich auf ein Kurzgutachten beschränken. Ein Vollgutachten ist in Fällen zu empfehlen, in denen der Schaden klar jenseits der Bagatellgrenze liegt bzw. von außen nicht erkennbar ist, wie hoch der Schaden voraussichtlich sein wird.

Sie wurden unverschuldet in einen Unfall verwickelt und sind sich nicht sicher, ob und womit Sie einen Sachverständigen beauftragen sollen? Oder Sie haben bereits ein Gutachten vorliegen und die gegnerische Versicherung weigert sich, die Kosten zu tragen? Sprechen Sie mich an! 

Foto(s): ©AdobeStock/NVB Stocker

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