Die Mühlen der Justiz...Gutachten dauerte zu lange? Unverwertbar!

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Das Landessozialgericht Baden-Württemberg hatte einen Fall im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung zu entscheiden. Dabei trat ein Problem hinsichtlich der Erstellung des gerichtlich angeordneten Sachverständigengutachtens auf, welches das Gericht in folgendem Leitsatz auf den Punkt bringt:

"Liegt ein Zeitraum von fast acht Monaten zwischen Untersuchung und Abfassung des Gutachtens, ist dieses nicht mehr als Sachverständigengutachten verwertbar. Dies gilt unabhängig davon, auf welchem medizinischen Fachgebiet das Gutachten eingeholt worden ist. Das unverwertbare Gutachten kann auch nicht im Wege des Urkundsbeweises verwertet werden."


LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 14.12.2023 - L 10 R 2331/23 (II. Instanz)

Sozialgericht Karlsruhe (BWB), Urteil vom 21.07.2023 - S 9 R 3291/20 (I. Instanz)




Die Klägerin, geboren 1965 und nach einer Heirat im September 2022 als W1 bekannt, absolvierte eine Ausbildung zur Fleischereifachverkäuferin, die sie bis 1985 ausübte. Danach arbeitete sie, unterbrochen durch Schwangerschaft/Mutterschutz, bis September 2018 als Maschinenarbeiterin im pharmazeutischen Sektor. Seit Dezember 2019 lebt sie von Unterhaltszahlungen ihres Ex-Ehemannes. Ihr wurde ein Behinderungsgrad von 50 und das Merkzeichen „G“ seit Oktober 2019 zuerkannt. Ein Reha-Entlassungsbrief vom 21.02.2019 benannte folgende Diagnosen:

  • Bewegungs- und Belastungsdefizit der Lendenwirbelsäule [LWS] bei degenerativen Veränderungen und Fehlstatik bei muskulären Dysbalancen, 
  • Gonarthrose beidseits mit Bewegungs- und Belastungsdefizit, 
  • medikamentös behandelte arterielle Hypertonie, 
  • eingeschränkte kardiopulmonale Belastbarkeit bei Adipositas, 
  • abhängige Persönlichkeitsstörung mit schwer beeinträchtigter Selbstbehauptungsfähigkeit, 
  • Zustand nach [Z.n.] zweimaliger Arthroskopie linkes Knie 2015/16, 
  • einmal Komazustand nach Arthroskopie rechtes Knie im November 2018, 
  • Verdacht auf [V.a.] Angststörung) 

zwar arbeitsunfähig, aber mit einem Leistungsvermögen von mehr als sechs Stunden täglich für leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in wechselnder Körperhaltung (überwiegend im Sitzen, ohne erhöhte Anforderungen an die Geh- und Stehfähigkeit, ohne schweres Heben und Tragen von Lasten, ohne häufiges Bücken bzw. ohne langanhaltende Tätigkeiten in überwiegenden Zwangshaltungen) entlassen wurde. 

Die Klägerin beantragte am 13.11.2019 die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Im Antragsverfahren wurden folgende Diagnosen festgestellt: 

  • belastungsabhängige Schmerzen und mittelgradige Funktionseinbußen des linken Kniegelenks bei beidseitigem Verschleißleiden, 
  • rechts gute Funktion bei Z.n. implantierter Endoprothese (bikondylär) im Juni 2019; am ehesten verschleißbedingte belastungsabhängige Kreuzschmerzen, aktuell ohne Funktionseinbußen und ohne Hinweise auf Nervenwurzelschädigung; 
  • leichte Funktionseinbußen der Halswirbelsäule (HWS), ebenfalls ohne Hinweise auf eine Nervenwurzelschädigung; leichtgradige Polyneuropathie ohne Beeinträchtigung der Gang- und Standsicherheit; 
  • chronifizierte Schmerzerkrankung mit körperlichen und psychischen Faktoren (vorbefundlich schweres Fibromyalgie-Syndrom) bei aktuell regelmäßiger Einnahme zweier leichter Schmerzmittel; 
  • vorbefundlich hochgradige Depression, aktuell (ohne antidepressiv wirksame Medikation) allenfalls leichtgradig; 
  • Ohrgeräusche sowie beidseitige geringe Innenohrschwerhörigkeit; bekannter Bluthochdruck, medikamentös behandelt, unkompliziert, 
  • aktuell (nach zweiwöchigem Absetzen des Blutdruckmittels) erhöhte Messwerte bei subjektiv wiederkehrendem Herzstolpern ohne Nachweis von Herzrhythmusstörungen. 

Der Gutachter bestätigte die Leistungsbeurteilung der Ärzte aus der Reha mit dem Hinweis: zusätzliche qualitative Einschränkung: keine sehr hohen Anforderungen an das Hörvermögen; auch liege keine sozialmedizinisch relevante Einschränkung der Wegefähigkeit vor.

Die beantragte Erwerbsminderung wurde daraufhin abgelehnt. Die Klägerin legte gegen den Ablehnungsbescheid Widerspruch ein. Aber auch dieser wurde zurückgewiesen. Dabei wurde auch darauf hingewiesen, dass die Klägerin einen Führerschein und ein Auto hat. 

Die Klägerin hat gegen den Widerspruchsbescheid Klage erhoben. Sie trägt vor, ihre Fähigkeit zu arbeiten sei aufgrund von vielfältigen körperlichen und seelischen Leiden, die starke chronische Schmerzen verursachen, stark beeinträchtigt. Weiterhin gibt sie an, dass sie sich nur unter Schmerzen und mit der Hilfe von zwei Gehstöcken über eine Distanz von etwa 100 bis 200 Metern bewegen kann. Die vorliegenden Gesundheitsprobleme sind hauptsächlich neurologischer und psychiatrischer Natur. Als Hauptursache für diese Zustände nennt sie das Verhalten ihres narzisstischen Ex-Ehemanns, der sie über Jahre hinweg beleidigt, gedemütigt und sowohl seelisch als auch körperlich misshandelt hat. Dies führte dazu, dass sie aus dem gemeinsamen Haus auszog, um der häuslichen Gewalt zu entkommen, und sie hat ihre neue Adresse aus triftigen Gründen bisher vor ihm verborgen gehalten. Aufgrund von Angst und seelischer Belastung kann die Klägerin ihre Wohnung nicht ohne Begleitung verlassen. 

Im gerichtlichen Verfahren wurden die vorhandenen medizinischen Unterlagen und Stellungnahme diskutiert. Im Mai 2021 hat das Sozialgericht dann von Amts wegen die Einholung eines Sachverständigengutachtens beschlossen. Der Sachverständige stellte fest,

  • chronische Schmerzen mit somatischen und psychischen Faktoren, 
  • eine anhaltende, in etwa mittelgradig ausgeprägte depressive Episode mit deutlichen Angstsymptomen, 
  • einen V.a. auf eine angst-/depressionsbezogene Persönlichkeitsveränderung nach langjähriger Extrembelastung, differentialdiagnostisch posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), 
  • einen V.a. eine dependente Persönlichkeitsstörung, 
  • eine (allenfalls leichtgradige, S. 138 SG-Akte) Polyneuropathie unklarer Genese, 
  • ein vorbeschriebenes degeneratives Wirbelsäulensyndrom sowie einen Z.n. Knietotalendoprothese rechts diagnostiziert. 

"Einzelne Verdeutlichungstendenzen im Beschwerdevorbringen und -verhalten seien nicht auszuschließen. Die Klägerin sei unter Beachtung qualitativer Einschränkungen (namentlich überwiegendes Sitzen, keine Zwangshaltungen, keine Exposition mit unspezifischen Stressfaktoren wie z.B. Kälte, Staub, Gase, Dämpfe, Nässe, keine Tätigkeiten mit Publikumsverkehr, mit erhöhter geistiger Beanspruchung, Verantwortung und nervlicher Belastung wie z.B. Akkord-, Fließband- und Nachtarbeit) noch „grenzwertig“ in der Lage, leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts sechs Stunden und mehr täglich zu verrichten. Von nervenärztlicher Seite bestehe keine Einschränkung der Gehfähigkeit und die Klägerin sei - unter Außerachtlassung eines „verkehrsmedizinischen Fokus“ - auch in der Lage, einen Pkw zu führen."

Die Klägerin hat daraufhin beantragt, eine erneute Begutachtung nach § 109 SGG einzuholen, was das Gericht mit Beschluss vom 29.09.2021 veranlasste. Die medizinische Untersuchung der Klägerin erfolge am 21.07.2022. Das Gutachten gab der Sachverständige dann am 15.03.2023 ab, also mehr als 2 Jahre nach Beauftragung und fast acht Monate nach der medizinischen Untersuchung. Das Gutachten ist für die Klägerin positiv ausgegangen. Unter dem Eindruck des Gutachtens gab das Sozialgericht der Klage letztlich statt.

Der beklagte Rentenversicherungsträger war damit nicht einverstanden und legte gegen das Urteil Berufung zum Landessozialgericht ein. In der Begründung wurde vor allem auch darauf Bezug genommen, dass das zwischen der Untersuchung der Klägerin durch S6 und der Abfassung seines Gutachtens ein Zeitraum von mehr als sieben Monate liege, sodass dieses Gutachten mithin keine Entscheidungsgrundlage sein könne. 

Das Landessozialgericht gab der Berufung statt. Es beurteilte insgesamt die bei der Klägerin vorliegenden gesundheitlichen Einschränkungen nicht als ausreichend, um den Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente zu begründen.

Vor allem aber hinsichtlich der langen Bearbeitungsdauer des § 109 SGB-Gutachtens führte das Gericht aus:

Aus dem Bericht des Gutachters lassen sich keine Gründe ableiten, die eine Erwerbsminderung der Klägerin im fraglichen Zeitraum stützen würden. Das Gutachten kann nicht als Beweismittel im Sinne des Sachverständigenbeweises gemäß § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 411 ZPO herangezogen werden – ein Aspekt, den das Sozialgericht übersehen hat. Der fast achtmonatige Zeitraum zwischen der Untersuchung der Klägerin am 21.07.2022 und der Abgabe des schriftlichen Gutachtens am 15.03.2023 untergräbt dessen Verwertbarkeit. Dies wurde bereits in früheren Entscheidungen ähnlich gesehen und von der Beklagten zurecht beanstandet.

Bei einem solch langen Zeitraum ist analog zu der Regelung für Richter, die den Sachverhalt und die Entscheidungsgründe nicht innerhalb von fünf Monaten nach der Urteilsverkündung schriftlich festhalten, davon auszugehen, dass die Erinnerungen des Sachverständigen an die Begutachtung und den persönlichen Eindruck vom Untersuchten im Laufe der Zeit verblassen. Dies ist besonders problematisch, da die persönliche Einschätzung und die während der Untersuchung gewonnenen Ergebnisse für die sozialmedizinische Beurteilung essentiell und zentral sind. Dies trifft umso mehr auf einen Gutachter zu, der regelmäßig viele Gutachten erstellt und dadurch mit vielen unterschiedlichen Fällen konfrontiert wird.


Fazit:

Ein gerichtliches Verfahren verlangt den Betroffenen viel Geduld ab. Dies gilt umso mehr, als ein Sachverständigengutachten eingeholt werden muss. Die medizinischen Daten sind einzuholen, aufzuarbeiten und zu beurteilen. Das braucht Zeit und raubt ob dieser Tatsache Ihnen als den Betroffenen oftmals die letzten Nerven. Dieses Urteil hat deswegen meines Erachtens Signalwirkung. Und zwar dahingehend, dass die gerichtlich bestellten Sachverständigen die Gutachtenerstellung nicht auf die allzu lange Bank schieben können. Dies dürfte nicht für Gutachten im sozialgerichtlichen Bereich, sondern auch auf andere Bereiche übertragbar sein.

Foto(s): www.istockphoto.com - JillianSuzanne; DALL·E 2024-03-23


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