Erschütterung Beweiswert von (Folge-) Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nach Kündigung BAG Urt.13.12.2023, 5 AZR 137/23

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Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat entschieden, dass der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (Folgebescheinigung) im Falle einer Krankmeldung direkt nach Erhalt einer Kündigung und einer deckungsgleichen Dauer der Arbeitsunfähigkeit bis zum Ende der Kündigungsfrist erschüttert sein kann, insbesondere, wenn der Arbeitnehmer unmittelbar nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses eine neue Stelle antritt. Dies gilt jedoch nicht automatisch für die Erstbescheinigung, deren Beweiswert bestehen bleibt, wenn keine Anhaltspunkte für eine Kenntnis von der Kündigung vorliegen. Das Gericht betont die Notwendigkeit einer ordnungsgemäßen Ausstellung der Bescheinigung gemäß den Arbeitsunfähigkeits-Richtlinien und unterstreicht die Bedeutung einer ausführlichen Darlegung konkreter Tatsachen zur Darlegung und ggf. zum Beweis der Arbeitsunfähigkeit durch den Arbeitnehmer. Im konkreten Fall wurde der Beweiswert der Folgearbeitsunfähigkeitsbescheinigungen als erschüttert angesehen, was eine detaillierte Darlegung und Beweisführung der Krankheit des Arbeitnehmers erforderlich macht. Das BAG hat insbesondere auf die verschiedenen Möglichkeiten der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit hingewiesen, einschließlich der Durchführung einer telefonischen Anamnese unter bestimmten Voraussetzungen und hat die fehlenden Feststellungen des Landesarbeitsgerichtes dazu, wie die Erkrankung diagnostiziert wurde, gerügt.

Legt der arbeitsunfähige Arbeitnehmer, nach Kündigungszugang, eine oder mehrere Folgearbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor, kann der Beweiswert dieser Folgebescheinigungen erschüttert sein, wenn diese deckungsgleich die Dauer der Kündigungsfrist umfassen und der Arbeitnehmer direkt nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufnimmt.


Sachverhalt:

Der klagende Arbeitnehmer, 1997 geboren, war seit März 2021 bei der Beklagten als Helfer beschäftigt und legte am 02.05.2022, einem Montag, eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für den Zeitraum vom 02. bis zum 06.05.2022 vor. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 02.05.2022, das dem Kläger am Folgetag zuging, zum 31.052022. Der Kläger legte Folgebescheinigungen vom 06.05.2022 und 20.05.2022 für die Zeit bis zum 31.05.2022 (einem Dienstag), dem Beendigungszeitpunkt des Arbeitsverhältnisses, vor. Ab dem 01.06.2022 war der Kläger wieder arbeitsfähig und nahm am selben Tag eine neue Beschäftigung auf. Die Beklagte sah den Beweiswert der vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erschüttert und verweigerte die Entgeltfortzahlung. Der Kläger verlangte die Entgeltfortzahlung und verwies zur Begründung darauf, dass die Arbeitsunfähigkeit bereits vor dem Zugang der Kündigung bestanden habe.


Verfahrensgang:

Das Arbeitsgericht Hildesheim  (Urt. v. 26.10.2022, 2 Ca 190/22) hat der Klage für den Zeitraum vom 01. bis 31.05.2022 stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen (Urt. v. 08.03.2023, 8 Sa 859/22) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Es hat die Revision deshalb zugelassen, weil durch das Bundesarbeitsgericht (Urt. v. 08.09.2021, 5 AZR 149/21) nicht hinreichend geklärt sei, unter welchen Umständen der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert werde (Nach Zurückverweisung durch BAG, neues Aktenzeichen LAG Niedersachsen 8 SLa 170/24).

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Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts:

Für den Zeitraum vom 07. bis 31.05.2022 war die Revision der Beklagten erfolgreich. Die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung diene als Beweis für die behauptete Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers. Trägt der Arbeitgeber Umstände vor und kann diese im Zweifel auch beweisen, die im Rahmen einer Gesamtbetrachtung Anlass zu ernsthaften Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers begründen, kann der Arbeitgeber damit den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erschüttern. Für die Erstbescheinigung vom 02.05.2022 hat das BAG die Entscheidung des LAG deshalb bestätigt, weil deren Beweiswert mangels Kausalzusammenhang nicht erschüttert sei. Eine Koinzidenz von Arbeitsunfähigkeitsbeginn und dem Zugang der Kündigung (03.05.2022) liege nicht vor. Nach den getroffenen Feststellungen hatte der Kläger auch keine Kenntnis von der beabsichtigten Beendigung des Arbeitsverhältnisses.

In Bezug auf die Folgebescheinigungen vom 06. und 20.05.2022 sieht das BAG deren Beweiswert dagegen als erschüttert an. Das deshalb, weil die in den Folgebescheinigungen festgestellte deckungsgleiche Verlängerung der Arbeitsunfähigkeit und die Kündigungsfrist synchron verlaufen, nämlich mit dem 31.05.2022 enden, zudem der Kläger direkt nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses am Folgetag eine neue Beschäftigung aufgenommen hat.

Prozessual hat das zur Folge, dass der Kläger für die Zeit der behaupteten Arbeitsunfähigkeit vom 07. bis zum 31.05.2022 die voll Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen seiner krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit trägt, um seine begehrte Entgeltfortzahlung (§ 3 Abs. 1 EFZG) durchzusetzen. Das BAG hat die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LAG zurückverwiesen, da das LAG dazu – für den Zeitraum 07. bis 31.05.2022 – keine Feststellungen getroffen hatte.

Das BAG hat insbesondere die fehlenden Feststellungen des LAG Niedersachsen dazu gerügt, wie der Arzt die Erkrankung des Klägers diagnostiziert hat. So habe das LAG missachtet, „dass im fraglichen Streitzeitraum nach § 4 V 2 Arbeitsunfähigkeits-RL aF die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit  nicht nur aufgrund einer unmittelbar persönlichen Untersuchung durch  den Arzt  oder einer mittelbar persönlichen Untersuchung im Wege einer Videosprechstunde möglich war, sondern unter den in § 8 I 1 Arbeitsunfähigkeits-RL aF genannten Voraussetzungen ebenso nach telefonischer Anamnese (vgl. BAG v. 13.12.2023, 5 AZR 137/23, Rz. 29).“


Hat der Arbeitgeber den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert gilt laut BAG:

Es ist dann Sache des Arbeitnehmers, konkrete Tatsachen darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen, die den Schluss auf eine bestehende Erkrankung zulassen. Z.B. durch substantiierten Vortrag dazu, welche Krankheiten vorgelegen haben, welche gesundheitlichen Einschränkungen bestanden haben und welche Verhaltensmaßregeln oder Medikamente ärztlich verordnet wurden. Der Arbeitnehmer muss also zumindest laienhaft bezogen auf den gesamten Entgeltfortzahlungszeitraum schildern, welche konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsunfähigkeit bestanden haben (vgl. BAG v. 13.12.2023, 5 AZR 137/23, Rz. 14).“


Nachweis: BAG Urt. v. 13.12.2023, 5 AZR 137/23 


Praxishinweis: Das BAG hat den Arbeitsgerichten Vorgaben an die Hand gegeben, wie bei entsprechendem Vortrag von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu verfahren ist. Die Entscheidung zeigt auf, dass Arbeitnehmer darauf achten müssen, dass die Ausstellung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bzw. die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit ordnungsgemäß, unter Beachtung der geltenden Arbeitsunfähigkeit-Richtlinie erfolgt (Stand 07.12.2023 BAnz AT 20.02.2024 B1), die festlegt, welche Regeln für die Feststellung und Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit von Versicherten von Vertragsärzten und beim Entlassungsmanagement aus dem Krankenhaus gelten. Sonst besteht die Gefahr, der Erschütterung der Vermutung der Arbeitsunfähigkeit nach § 5 Abs. 1 S. 2 Entgeltfortzahlungsgesetz und des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert.


Im Ausgangsfall des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen (Urt. v. 08.03.2023, 8 Sa 859/22) ist, nach der Zurückverweisung, am 10.07.2024 bereits eine Entscheidung ergangen (Az.- neu: 8 SLa 170/24), die noch nicht veröffentlicht ist.


Umgesetzt worden sind die Vorgaben des BAG z.B. vom Landesarbeitsgericht Niedersachsen (Urt. v. 18.04.2024, 6 Sa 416/23). Danach kann der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, z.B. auch wegen Verstößen des ausstellenden Arztes gegen bestimmte Vorgaben der Arbeitsunfähigkeit-Richtlinie (AU-RL) erschüttert sein. Z.B. wenn entgegen § 4 Abs. 5 AU-RL keine unmittelbar  persönliche Untersuchung oder nicht mittelbar persönlich im Rahmen einer Videosprechstunde stattgefunden hat, sondern die Ausstellung nur nach telefonischem Kontakt erfolgte; Verstoß gegen § 5 Abs. 4 AU-RL Bescheinigung der zukünftigen Krankheitsdauer für einen Zeitraum von mehr als zwei Wochen, ohne das dies wegen der Erkrankung oder eines besonderen Krankheitsverlaufs sachgerecht gewesen wäre.





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