„Etwas ungenauer, bitte!“ – weshalb Gesetze Spielraum lassen sollten

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Eine Jurastudentin fällt durch die Prüfung, weil sie nach der Pause fünf Minuten zu spät kam. Ist das gerecht? Und: Kann das rechtens sein? Das Bundesverwaltungsgericht hat dazu nun ein erfreuliches Urteil gefällt.

Mein letzter Urlaub in Südeuropa. Als wir mit dem Linienbus in die Stadt wollten, hielt der Fahrer kurz nach dem Losfahren wieder an. Ein junger Mann hechtete noch zur Tür rein. Sagte „Danke!“, alle Fahrgäste, darunter viele Deutsche, freuten sich, schnell ging’s weiter.

Vor ein paar Tagen dann dieselbe Ausgangslage an einem deutschen ZOB. Nur: Die Fahrerin hielt und erklärte dem zu Spätgekommenen durchs offene Fenster ausführlich, weshalb sie ihn NICHT mitnehmen werde. Wegen Versicherung und auch kein Bock mehr auf Leute wie ihn, wer nicht kommt zur rechten Zeit und blablabla. Meine Mitreisenden, offenbar alle stets preußisch-pünktlich, äußerten sich zufrieden. „Wenn das jeder machen würde“, nölte die rustikale Kurzhaarige hinter mir, die in ihrer Lederjacke doch gern so progressiv-locker rübergekommen wäre. Stattdessen plapperte sie dieses realitätsfernste aller Argumente nach. Merke: Niemals macht jeder alles, keine Infrastruktur würde funktionieren, jeder Tunnel wäre verstopft, jede Brücke schnell einsturzgefährdet. Dies auszuführen hätte nur zu lange gedauert, mein freundlicher Vorschlag zur Fahrerin deshalb: „Öffnen Sie doch einfach die Tür, wir gucken auch alle weg.“, brachte mir eine Belehrung ein, dem jungen Mann jedoch Erleichterung: Er durfte, trotz dramatischer dreiminütiger Verspätung, tatsächlich mit.

Weshalb ich dies erzähle? Dass wir gern so erbarmungslos genau sind, spiegelt sich an vielen Stellen unserer Justiz wider. Mit teils haarsträubenden Folgen. So gibt es in Nordrhein-Westfahlen ein Gesetz (§ 20 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 3 JAG), das zur Prüfung zugelassene Jurastudent*innen in Gänze wieder ausschließt – wenn sie während der Prüfung einmal zu spät kommen. Bedeutet: Wer fünf Minuten nach der Pause wiedererscheint, ist durchgefallen. Ob wegen Magen-Darm oder hitziger Diskussion im Gang – egal. Weil „wenn das jeder machen würde“…

Eine Studentin wollte sich das nun nicht bieten lassen und tat, was jede gute, angehende Anwältin in dieser Situation tun sollte: Sie klagte. Zwei Instanzen gingen verloren, dann kam das Bundesverwaltungsgericht. Und siehe da: Es stellte fest: Der § 20 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 3 JAG widerspricht in der aktuellen Fassung dem „Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“. Denn er ermöglicht eine Sanktion nicht nur in Fällen (der eigentliche Sinn), in denen jemand die mündliche Prüfung abbreche, um in einem neuen Termin seine Erfolgschancen zu erhöhen, sondern eben auch dann, wenn sich jemand nur geringfügig verspätet. Und „in dieser Konstellation wiegt die Sanktion (also die Ungültigkeit der gesamten Prüfung) zu schwer“, so das höchstrichterliche Urteil.

Die Studentin bekommt für ihre Verspätung nun einen Punktabzug und kann damit gut leben. Ich bin mir sicher: Bald wird sie gut arbeiten, schließlich hat sie bereits vor ihrem Examen einen wichtigen Fall gewonnen. Und „wenn das jeder machen würde“…, hätten wir unseren Paragrafen-Dschungel schnell deutlich gelichtet. Vielleicht würden einige dann grundsätzlich wohlwollender reagieren auf die kleinen menschlichen Unzulänglichkeiten. Obwohl sie gerade nicht irgendwo in Südeuropa in einem Bus sitzen.

Herzlichst, Ihr

Rechtsanwalt Gerhard Rahn

(BVerwG, Az.: 6 C 3.18)



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