Glaukom bei Kind nicht erkannt: 80.000 Euro

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Mit Urteil vom 17.04.2015 hat das Oberlandesgericht Hamm eine Bielefelder Augenärztin verurteilt, an meine Mandantin ein Schmerzensgeld in Höhe von 80.000 Euro zu zahlen.

Die 1997 geborene Auszubildende litt seit 2007 an Diabetes mellitus und befand sich in augenärztlicher Behandlung. Nach den Sommerferien 2008 fiel den Eltern auf, dass ihre zum damaligen Zeitpunkt 11-jährige Tochter schlechter sehen konnte. Sie stellten diese mehrfach aufgrund der fortschreitenden Verschlechterung der Sehleistung bei der Augenärztin vor. Die letzte Vorstellung erfolgte am 26.02.2009. Wegen einer deutlichen Sehverschlechterung gingen sie mit ihrer Tochter zu einer anderen Augenärztin, welche die Mandantin notfallmäßig in die Augenklinik Bielefeld einwies.

Bei Erstvorstellung am 16.03.2009 stellten die Ärzte die Diagnose eines dekompensierten juvenilen Glaukoms mit Kammerwinkeldysgenesie beidseits bei glaukomatöser Optikus-Atrophie. Es kam zu operativen Eingriffen am rechten und linken Auge. Der Sachverständige hatte festgestellt, dass die Augenärztin es grob fehlerhaft unterlassen habe, eine weitergehende Untersuchung durchzuführen. Diese hätte einen Monat vorher eine sofortige Einweisung ins Krankenhaus mit entsprechender Behandlung zur Folge gehabt.

Es sei am 26.02.2009 zwingend erforderlich gewesen, der Ursache der nur noch vorhandenen und persistierenden Sehfähigkeit von 60 % nachzugehen und den Sehnerv zu betrachten. Die Begutachtung des Sehnervs gehöre zur Basisuntersuchung. Bei den Schäden beider Augen, welche die Krankenhausärzte einen Monat später festgestellt hätten, habe auch schon bei der Untersuchung der Augenärztin eine deutliche Schädigung vorgelegen. Diese sichtbare Schädigung hätte in jedem Fall zu einer Augeninnendruck- und Gesichtsfeldmessung führen müssen. Die Augeninnendruckmessung hätte ein sofortiges Einschreiten mit Medikamenten und eine notfallmäßige Einweisung ins Krankenhaus erfordert. Es wäre unentschuldbar und nicht nachvollziehbar, dass die Ärztin nicht in diesem Umfang auf das Ergebnis reagiert hätte.

Das Landgericht Bielefeld hatte der Mandantin lediglich ein Schmerzensgeld in Höhe von 25.000 Euro zugesprochen. Diese 25.000 Euro seien ein Teilschmerzensgeld, weil die Schadensentwicklung hinsichtlich der Erblindung noch nicht abgeschlossen und überschaubar sei. Außerdem habe bereits bei der fehlerhaften Untersuchung der Augenärztin ein Gesichtsfeldschaden vorgelegen, welcher nicht durch das Schmerzensgeld auszugleichen wäre.

Ich habe Berufung gegen das Urteil mit der Begründung eingelegt, das Landgericht hätte den Schmerzensgeldanspruch nicht in Teilbeträge aussplitten dürfen. Die Mandantin habe zunächst ein Schmerzensgeld von mindestens 45.000 Euro verlangt, wobei sich dieser Betrag lediglich auf die Folgen in der Schule, beim Sport, in der Freizeit und auf die psychische Belastung durch die Sehverschlechterung bezogen habe. Bei Einreichung der Klage sei die Gefahr der vollständigen Erblindung noch nicht bekannt gewesen. Das habe erst der Sachverständige im Prozess I. Instanz erläutert. Daraufhin hielt Mandantin aufgrund des Risikos der vollständigen Erblindung ein höheres Schmerzensgeld von mindestens 80.000 Euro für angemessen. Die Gefahr der vollständigen Erblindung sei nach den Ausführungen des Sachverständigen vorhersehbar und naheliegend. Die Erblindung träte sicher ein, lediglich der Zeitpunkt stünde noch nicht fest.

Das Oberlandesgericht Hamm hat das Urteil des Landgerichtes Bielefeld abgeändert: Die Klägerin mache zu Recht ein Schmerzensgeld in Höhe von 80.000 Euro geltend, wobei sie ausdrücklich keine offene Teilklage erhoben habe. Das Landgericht habe nicht berücksichtigt, dass der jugendlichen Klägerin durch die verspätete Behandlung die Möglichkeit genommen wurde, ein adäquates Leben zu führen. Sie sei in großem Umfang behindert im Sport, könne keinen PKW führen und müsse letztlich einen Beruf ergreifen, der ihren jetzigen Möglichkeiten entspräche.

Der Sachverständige habe klargemacht, dass die Erblindung, die bei entsprechender Stabilität der jetzigen Situation zwar in den nächsten 10 bis 20 Jahren noch nicht drohe, schon jetzt bei der Lebensplanung und der Berufswahl berücksichtigt werden müsse. Wegen des Verlustes der Sehkraft benötige die Klägerin im Rahmen ihrer Ausbildung zur Kauffrau für Büromanagement in der Schule einen Betreuer - wie auch schon im Gymnasium. Es bedürfe keiner Frage, dass eine solche Sehbehinderung als Kind sowie jetzt als junge Frau einen erheblichen Verlust an Lebensfreude darstelle. Mit dieser Situation müsse sie auch künftig leben, weil sich ihr Sehvermögen nicht bessern, sondern bestenfalls durch regelmäßige Kontrolluntersuchungen stabil halten lasse.

Angesichts der weitreichenden Schädigung, die durch den groben Fehler der Ärztin verursacht worden sei, gebe es keine Pufferzone bis ins Alter. Die Klägerin würde also noch zu Lebzeiten erblinden. Es sei allerdings nicht möglich, diesen Zeitpunkt genauer zu bestimmen. Vor diesem Hintergrund halte der Senat für die derzeit bestehenden Einschränkungen ein Schmerzensgeld von insgesamt 80.000 Euro für berechtigt, um die schon bestehenden und auch zukünftig absehbaren Folgen auszugleichen. Dabei sei ausschließlich die vollständige Erblindung nicht berücksichtigt worden, weil deren Eintritt nach den Ausführungen des Sachverständigen zeitlich nicht hinreichend absehbar sei. Die bereits vorhandenen erheblichen Einschränkungen in der Lebensqualität seien auch ohne die Erblindung heute schon vorhanden und für die Zukunft ausreichend absehbar.

(OLG Hamm, Urteil vom 17.04.2015, Az.: 26 U 107/15)

Christian Koch, Fachanwalt für Medizinrecht



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