Pflichtverteidigung – Was steckt dahinter? Wann bekommt man Sie? Ist sie eine Verteidigung zweiter Klasse?

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Kurz und knapp – das Wichtigste:



  • Fälle der notwendigen Verteidigung sind in § 140 StPO geregelt,
  • Die Auswahl des Pflichtverteidigers ist in § 142 Abs. 5 und Abs. 6 Strafprozessordnung geregelt,


  • Ein Beschuldigter hat das Recht einen Verteidiger / einen Anwalt seines Vertrauens innerhalb einer bestimmten Frist zu bezeichnen,


  • Der vom Beschuldigten fristgerecht benannte Verteidiger ist vom Gericht zu bestellen, wenn dem kein wichtiger Grund entgegensteht,


  • Die Aufzählung der wichtigen Gründe in § 142 Abs. 5 S. 3 ist nicht abschließend


  • Pflichtverteidigung ist nicht kostenlos – nur bei Freispruch oder Einstellung des Verfahrens


  • Wählt der Beschuldigte keinen Verteidiger, kann das Gericht einen Rechtsanwalt beiordnen.


  • Frist vom Gericht zur Benennung eines Verteidigers durch den Beschuldigten darf nicht zu kurz sein.




Pflichtverteidigung – notwendige Verteidigung / Faires Verfahren


Eine notwendige Verteidigung des Beschuldigten folgt zudem aus dem fair-trial Grundsatz:


Mit dem zweiten Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren und zur Änderung des Schöffenrechts hat der Bundestag bereits eine EU-Richtlinie umgesetzt, die den Zugang zu einem Rechtsbeistand für Beschuldigte in Strafverfahren erweiterte.


Die notwendige Verteidigung soll vor allem das Recht des Beschuldigten auf ein faires Verfahren gewährleisten. Der Fair Trial-Grundsatz des Strafverfahrens ergibt sich nicht nur aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip, sondern ist auch in Art. 6 EMRK verankert.


Um zwischen Staat und Beschuldigten Waffengleichheit zu schaffen, reicht es nicht, Beschuldigten die theoretische Möglichkeit zu eröffnen, sich einen Rechtsbeistand zu suchen, sondern es muss auch dafür gesorgt werden, dass diese Möglichkeit mittellosen Beschuldigten nicht faktisch verwehrt bleibt. Daher regelt Art. 6 Abs. 3c EMRK auch, dass einem mittellosen Beschuldigten unentgeltlich ein Verteidiger gewährt werden muss.


Der Wortlaut des Art. 6 EMRK lautet wie folgt – Hervorhebungen durch den Unterzeichner:


(3) Jede angeklagte Person hat mindestens folgende Rechte:


  • innerhalb möglichst kurzer Frist in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden;
  • ausreichende Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung ihrer Verteidigung zu haben;
  • sich selbst zu verteidigen, sich durch einen Verteidiger ihrer Wahl verteidigen zu lassen oder, falls ihr die Mittel zur Bezahlung fehlen, unentgeltlich den Beistand eines Verteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist,


Um ein faires Verfahren gewährleisten zu können, kann es folglich nicht ausreichen, einem Verteidiger umfassende Anwesenheits- und Mitwirkungsrechte zu gewährleisten, es muss vielmehr auch dafür Sorge getragen werden, dass ein Beschuldigter, der sich einen Verteidiger selbst nicht leisten kann, einen Pflichtverteidiger beizuordnen.


Der Grundsatz des fairen Verfahrens gebietet es, Beschuldigten die Möglichkeit einzuräumen, effektiv an ihrem eigenen Verfahren mitzuwirken – dies ist jedoch nur in den seltensten Fällen ohne rechtskundigen Beistand möglich.



Was ist ein Pflichtverteidiger?


Das Strafprozessrecht kennt zwei Arten von Verteidiger, den Wahl- und den Pflichtverteidiger.


Wer das nötige Kleingeld hat – jeder muss seine Verteidigung grds. selbst bezahlen – der kann sich einen Wahlverteidiger nehmen.


Hinweis:


  • Vor dem Amtsgericht brauchen Sie als Beschuldigter keinen Anwalt, d.h. keinen Verteidiger, Sie können sich selbst verteidigen.
  • Das sollten Sie aber nicht machen, da eine Verurteilung weitreichende Folgen haben kann und Sie als Beschuldigter vor einer Strafverhandlung wissen sollten, was die Ermittlungsbehörden (Staatsanwaltschaft und Polizei) für Beweise ermittelt haben, um die Schuld nachzuweisen.



Ist ein Pflichtverteidiger schlechter?


Nein! Pflicht- und Wahlverteidigung sind gleichwertig hoch.


Der Beschuldigte hat das Recht sich einen Verteidiger zu suchen, also auszuwählen und das Gericht wird diesen Anwalt dem Beschuldigten als Pflichtverteidiger beiordnen, wenn die Voraussetzungen des § 140 Strafprozessordnung (StPO) vorliegen!


Beachten Sie:


  • Wenn Sie Beschuldigter eines Verbrechens, in (Untersuchungs-) Haft, ein Widerruf der Bewährung droht oder sonstige Voraussetzungen vorliegen, die nach § 140 StPO eine Pflichtverteidigung rechtfertigen, dann sollten Sie Ihren Verteidiger, Anwalt, Rechtsanwalt selbst auswählen.
  • Die Polizei, Staatsanwaltschaft, Haftanstalten und Gerichte müssen Ihnen hierzu behilflich sein!



Wer hat Anspruch auf Pflichtverteidigung?


§140 StPO gibt vor, wann ein Fall der sog. notwendigen Verteidigung vorliegt.


Dies bspw. bei / wenn


  • die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht, dem Landgericht oder dem Schöffengericht stattfindet;


  • dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird;


  • das Verfahren zu einem Berufsverbot führen kann;


  • der Beschuldigte nach den §§ 115, 115a, 128 Absatz 1 oder § 129 einem Gericht zur Entscheidung über Haft oder einstweilige Unterbringung vorzuführen ist;


  • der Beschuldigte sich auf Grund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befindet;


  • zur Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen Zustand des Beschuldigten seine Unterbringung in Frage kommt;


  • zu erwarten ist, dass ein Sicherungsverfahren durchgeführt wird;


  • der bisherige Verteidiger durch eine Entscheidung von der Mitwirkung in dem Verfahren ausgeschlossen ist;


  • dem Verletzten der Straftat ein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist;


  • bei einer richterlichen Vernehmung die Mitwirkung eines Verteidigers auf Grund der Bedeutung der Vernehmung zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten geboten erscheint;


  • ein seh-, hör- oder sprachbehinderter Beschuldigter die Bestellung beantragt.



Wichtig:


Besonders zu beachten ist noch der sog. Auffangtatbestand des § 140 Abs. 2 StPO!


Dieser besagt,


Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt auch vor, wenn wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann.


Dies betrifft Fälle wie,


Schwere der zu erwartenden Rechtsfolgen

  • Widerruf der Bewährung
  • Straferwartung von einem Jahr Freiheitsstrafe oder Jugendstrafe


der / die Beschuldigte ist der deutschen Sprache nicht mächtig,


schwierige Sach- und Rechtslage

  • Notwendigkeit der Akteneinsicht für den Verteidiger
  • alle Zeugen sind Polizisten



Unfähigkeit zur Selbstverteidigung

  • fehlende Deutschkenntnisse
  • Beiordnung eines Anwalts für den Geschädigten (Nebenklage)
  • besonders junges Alter des Angeklagten



Was kostet ein Pflichtverteidiger?


Pflichtverteidigung ist nicht kostenlos, dass sollte jeder Beschuldigte wissen!


Die Kosten für einen Pflichtverteidiger werden zunächst – sofern die Voraussetzungen des § 140 StPO vorliegen und eine Beiordnung erfolgt ist - von der Staatskasse getragen.


Das bedeutet, dass der Rechtsanwalt seine Gebühren mit der Landesjustizkasse und nicht mit dem Mandanten abrechnet.


Wird ein Beschuldigter verurteilt, holt sich die Justiz das Geld zurück und der Beschuldigte muss den Verteidiger bezahlen.


§ 465 Abs. 1 StPO besagt:


Die Kosten des Verfahrens hat der Angeklagte insoweit zu tragen, als sie durch das Verfahren wegen einer Tat entstanden sind, wegen derer er verurteilt oder eine Maßregel der Besserung und Sicherung gegen ihn angeordnet wird.


Bei einer Pflichtverteidigung handelt es sich somit nicht um einen „kostenlosen Anwalt“.


Beachten:


Kommt es allerdings zu einem Freispruch, kann der Staat die Kosten für den Pflichtverteidiger natürlich nicht vom Freigesprochenen verlangen.



Pflichtverteidigung im Jugendstrafrecht

Jugendliche und Heranwachsende



Auch im Jugendstrafrecht, im Jugendstrafverfahren ist eine Pflichtverteidigung möglich, so § 68 Jugendgerichtsgesetz (JGG). Eine Verteidigung kostet Geld, welches viele Jugendliche und auch Heranwachsende nicht haben, weil auch die Eltern oftmals finanziell hierzu nicht in der Lage sind.


Definition Jugendlicher und Heranwachsender:


Jugendlicher ist, wer zur Zeit der Tat vierzehn, aber noch nicht achtzehn, Heranwachsender, wer zur Zeit der Tat achtzehn, aber noch nicht einundzwanzig Jahre alt ist.


Verantwortlichkeit für eine Straftat:


Ein Jugendlicher ist strafrechtlich verantwortlich, wenn er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Zur Erziehung eines Jugendlichen, der mangels Reife strafrechtlich nicht verantwortlich ist, kann der Richter dieselben Maßnahmen anordnen wie das Familiengericht.


Bei einem Heranwachsenden wird Jugendstrafrecht dann angewandt, wenn


  • ein Heranwachsender eine Verfehlung begeht, die nach den allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedroht ist.


  • die Gesamtwürdigung der Persönlichkeit des Täters bei Berücksichtigung auch der Umweltbedingungen ergibt, dass er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichstand, oder


  • es sich nach der Art, den Umständen oder den Beweggründen der Tat um eine Jugendverfehlung handelt.



Das Gesetz geht aber im Jugendstrafverfahren von der „notwendigen Verteidigung“ aus, sodass deswegen ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist.


Insbesondere wenn Jugendlichen oder Heranwachsenden ein Verbrechen zur Last gelegt wird, ist ein Pflichtverteidiger zwingend beizuordnen.


Beispiele für ein Verbrechen nach § 12 StGB sind:


  • Raub, § 249 StGB
  • Räuberische Erpressung - § 255 StGB


Es gilt, wie im Erwachsenenstrafrecht, dass ein Rechtsanwalt als Pflichtverteidiger beizuordnen ist, wenn die o.g. Voraussetzungen nach § 140 StPO vorliegen.


Wichtiger als die in § 68 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 – 5 JGG ausgezählten Fällen zur Beiordnung eines Pflichtverteidigers für einen Jugendlichen ist die allgemeine Verweisung auf § 140 StPO, denn nach § 140 Abs. 2 StPO ist dem Beschuldigten auch dann ein Verteidiger zu bestellen, wenn er selbst nicht in der Lage ist, sich zu verteidigen.


Es ist anerkannt, dass die Unfähigkeit der Selbstverteidigung aus dem Alter des Beschuldigten resultieren kann und dem Umstand, dass er in keinster Weise „Gerichtserfahren“ ist


Auch sind negative Folgen/Nachteile für einen Jugendlichen zu berücksichtigen, wenn er nicht verteidigt wird.


Auch sind negative Folgen/Nachteile für den Beschuldigten zu erwarten, wenn er nicht verteidigt wird.


Negative Folgen sind,


  • Verlust Ausbildungsverhältnisses,
  • Schwierigkeiten bei der Beantragung eines Führerscheins,
  • Nicht-Erlangung einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung ergeben.



Auch ist anzuführen, dass bei derartigen Strafprozessen oft mehrere Zeugen vernommen werden und in der Hauptverhandlung Vorhalte aus diesen Vernehmungsprotokollen notwendig sind/werden, welche den Jugendlichen als Beschuldigten belasten könnten. Daraus ergibt sich eine schwierige Sach- und Rechtslage.


Bei den Voraussetzungen ist zusätzlich die jugendtypische Unreife und Hilfsbedürftigkeit zu beachten, sodass Jugendlichen eher als Erwachsenen ein Verteidiger beigeordnet wird.



Besonderheiten im Jugendstrafrecht


  • Grds. hat ein Verurteilter, ob Jugendlicher oder Erwachsener die Kosten zu tragen.
  • Wie immer im rechtlichen gibt es eine Ausnahme!
  • Im Jugendstrafrecht kann das Gericht aussprechen, dass die Anwaltskosten des Jugendlichen der Staatskasse auferlegt werden.



Fazit


Das Recht eines jeden Beschuldigten auf einen Verteidigerbeistand gehört zu den tragenden rechtsstaatlichen Selbstverständlichkeiten.


Das Institut der Pflichtverteidigung ist staatliche Fürsorge für den vermögenslosen Beschuldigten und sichert im Interesse einer rechtsstaatlichen Strafrechtspflege einen prozessordnungsgemäßen Verfahrensablauf. Mit der Pflichtverteidigung delegiert der Staat diese auch im öffentlichen Interesse liegende Aufgabe an die Rechtsanwaltschaft.


Pflichtverteidigung ist daher, wie das Bundesverfassungsgericht festgehalten hat, eine besondere Form der Indienstnahme Privater im öffentlichen Interesse.


Der Beschuldigte hat ein Recht auf möglichst frühzeitigen und umfassenden Zugang zu Beweismitteln und Ermittlungsergebnissen und auf die Vermittlung der erforderlichen materiell- und prozessrechtlichen Informationen, ohne die er seine Rechte nicht wirkungsvoll wahrnehmen könnte.


Die Mitwirkung eines Strafverteidigers, der dem Beschuldigten beratend zur Seite steht und für diesen die ihn entlastenden Umstände zu Gehör bringt, ist für die Herstellung von ‚Waffengleichheit‘, unentbehrlich.



Beachten:


Auch Prozesskostenhilfe gibt es im Strafrecht für den Beschuldigten nicht. Möglich ist, einen Beratungshilfe-Schein zu beantragen. Dieser umfasst nur eine Beratung bei einem Strafverteidiger. Weitere Verteidigungsleistungen wie Akteneinsicht sind nicht abgedeckt.
 
 Kostenlos ist Pflichtverteidigung bei Freispruch oder Einstellung des Verfahrens, wenn die Kosten der Staatskasse auferlegt werden.



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