Recht einfach: Rückwirkung von Leistungsanträgen nach dem SGB II (BSG, Urteil vom 11. Juli 2019)

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In dieser Rubrik will ich Ihnen in unregelmäßigen Abständen die Rechtsprechung in den von mir bearbeiteten Rechtsmaterien näherbringen. Es kann sich dabei um aktuelle Entscheidungen der Gerichte ebenso handeln wie um Grundsatzurteile oder sonst länger zurückliegende Verfahren.

Gerichtsentscheidungen sind oftmals kompliziert, vielfach für den Laien unverständlich. Ich fasse den Sachverhalt und die Entscheidung zusammen und erläutere die Bedeutung für den Einzelnen. 

Heute will ich Ihnen eine Entscheidung aus dem Bereich „Hartz 4“ vorstellen. Es handelt sich um das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 11. Juli 2019, Az.: B 14 AS 51/18 R.

Der Sachverhalt

Der Kläger (K) – ein Familienvater mit Frau und Kind – war erwerbstätig, musste jedoch eines Monats (Januar 2015) feststellen, dass er seinen Lohn nicht erhalten hatte. Was tut man in einem solchen Fall? Solange das Arbeitsverhältnis rechtlich besteht, kommt jedenfalls Arbeitslosengeld I nicht in Betracht. Ganz richtig beantragte K daher mit einer E-Mail (dies ist zulässig, wenn das Jobcenter – wie hier – einen solchen Kommunikationsweg eröffnet hat) an das zuständige Jobcenter Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), im Volksmund Hartz 4. Diese E-Mail schickte K am 30. Januar 2015, einem Freitag, gegen 20 Uhr ab. Darauf erhielt der K erst einmal keine Antwort. Er fragte daher Anfang März 2015 noch einmal nach. Daraufhin bewilligte das Jobcenter Leistungen ab März, lehnte diejenigen ab Januar aber ab. Dabei bezog sich das Jobcenter auf einen Antrag aus dem März (tatsächlich lag nur ein Antrag aus dem Januar vor).

Der Verfahrensgang

Das Sozialgericht (erste Instanz) verurteilte das Jobcenter auf die Klage des K hin antragsgemäß zur Gewährung von Leistungen ab Januar 2015. Die von dem Jobcenter gegen diese Entscheidung vor dem Landessozialgericht (zweite Instanz) geführte Berufung wurde zurückgewiesen. Auch die von dem Jobcenter Eingelegte Revision vor dem Bundessozialgericht (dritte Instanz) hatte keinen Erfolg.

Der rechtliche Kontext

Um die Entscheidung verständlich zu machen, ist es wichtig, sich zunächst die rechtlichen Rahmenbedingungen klar zu machen. Insbesondere ging es hier um § 37 Abs. 2 SGB II. Diese Vorschrift bestimmt, dass Leistungen nach dem SGB II nicht für Zeiten vor Antragstellung erbracht werden (Satz 1). Weiter ist geregelt, dass ein Antrag auf den jeweiligen Monatsersten zurückwirkt (Satz 2). Das bedeutet im Klartext: Ganz egal, wann Sie einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II stellen, er wird so behandelt, als sei er am ersten Tag des jeweiligen Monats gestellt worden. 

Zu beachten ist, dass nach zivilrechtlichen Grundsätzen der Zugang einer sogenannten empfangsbedürftigen Willenserklärung (das sind Erklärungen, mit denen der Erklärende eine bestimmte Rechtsfolge herbeiführen will) unter anderem davon abhängt, wann eine Erklärung unter Abwesenden (etwa im Fall einer E-Mail) dem Empfänger zugeht. Entscheidend sind insoweit die „normalen Umstände“. So ist beispielsweise bei einer Privatperson lediglich davon auszugehen, dass diese einmal am Tag ihren Briefkasten leert. Jedenfalls nach „Büroschluss“ kann nach diesen Grundsätzen üblicherweise nicht mehr von einem Zugang der Willenserklärung ausgegangen werden. Mit weiteren Details verschone ich Sie an dieser Stelle.

Die Entscheidung

Das BSG hatte sich also in dem Verfahren mit der Frage zu befassen, wann der Antrag des K zugegangen war. Hiervon hing ab, für welchen Monat der K erstmals Leistungen nach dem SGB II erhalten konnte. 

Es kommt zu dem Ergebnis, dass die Rückwirkungsfiktion des § 37 Abs. 2 SGB II auch dann eintritt, wenn mit der tatsächlichen Kenntnisnahme des Antrags aufgrund der üblichen Bürozeiten erst zu Beginn des Folgemonats (ein Zugang am Wochenende ist ausgeschlossen) gerechnet werden kann.

Dies steht im Einklang mit dem Willen des Gesetzgebers und mit den weiteren Regelungen des SGB II. Hinzu kommt, dass die rechtsgestaltenden Wirkungen eines solchen Antrags weitestgehend unabhängig vom Willen des Leistungsberechtigten sind, dieser hat nur die Wahl, wann er den Antrag stellt. 

Entscheidend ist einzig und allein, dass in dem betreffenden Monat überhaupt ein Antrag in den Machtbereich des Jobcenters gelangt ist, so das BSG. 

Konsequenzen der Entscheidung

Das BSG bestätigt hier die Tragweite der gesetzlichen Regelung. Soweit ein per E-Mail oder auf einem anderen Übermittlungsweg eingereichter Antrag auf Leistungen nach dem SGB II tatsächlich noch in dem jeweiligen Monat zugeht, stehen dem Antragsteller auch ab diesem Monat Leistungen zu. 

Weder das Jobcenter noch der Antragsteller können diese Folgen verhindern. 

Im Hinblick auf anzurechnendes Einkommen oder Vermögensfreigrenzen muss der jeweilige Antragsteller sich auch weiterhin gut überlegen, ab wann er den Antrag mit Erfolgsaussicht stellen kann, beziehungsweise bis wann er auf den Verbrauch von vorhandenem Vermögen verwiesen oder noch vorhandenes Einkommen angerechnet werden kann.


Rechtstipp aus dem Rechtsgebiet

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