Tragweite der Rechtsprechungsänderung des BGH zum Anscheinsbeweis beim Rückwärtsfahren

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Wieder einmal hat der BGH – mit Urteil vom 15.12.2015 – mit hervorragender juristischer Argumentation eine Grundsatzentscheidung getroffen, die noch erhebliche Auswirkungen nach sich ziehen wird. Denn nach diesem Urteil solle der Anscheinsbeweis für das Verschulden des Rückwärtsfahrenden nicht mehr gelten, sofern dieser bereits – auch nur kurze Zeit – gestanden habe.

Bisherige Rechtsprechung zu § 9 VStVO

Zwar entspricht es bereits jetzt der ständigen Rechtsprechung der Rechtsprechung zu § 9 V StVO im Rahmen eines Anscheinsbeweises wider den Rückwärtsfahrenden zu vermuten, dass dieser nicht die gebotene Sorgfalt walten ließ. So sei die vorherige und ständige Rückschau unerlässlich. Auch auf eine Einparkhilfe dürfe sich der Autofahrer nicht vollständig verlassen und nur bei überblickbarem und mit Gewissheit freiem Raum rückwärts fahren, sonst sei ein Einweiser erforderlich. Könne sich der Kraftfahrer nicht selbst überzeugen und habe er keinen Einweiser, so dürfe er nicht rückwärts fahren – so schon der BGH in VersR29, 275.

Zwei rückwärtsfahrende Verkehrsteilnehmer

Dem Urteil vom Dezember liegt ein vermeintlich typischer Sachverhalt aus dem Alltag zu Grunde. Zu dem Unfall auf einem Parkplatz eines Baumarktes kam es, nachdem zeitgleich zwei PKW-Fahrer ihre jeweiligen Fahrzeuge jeweils rückwärts aus zwei gegenüberliegenden Parkbuchten ausparken wollten – mithin der tägliche Wahnsinn auf einem Parkplatz eines Einkaufscenters kurz vor Ladenschluss oder einem Feiertag.

Der BGH führte hierzu aus, dass es zwar zu direkten Anwendung des § 9 V StVO bei dieser Sachverhalts-Konstellation nicht komme, weil auf öffentlichen Parkplätzen ohne eindeutigen Straßencharakter die StVO nicht gelte. Stattdessen gelte jedoch sinngemäß das Gebot der allgemeinen Rücksichtnahme des § 1 II StVO. Auf einem Parkplatz müsse der Kraftfahrer so vorsichtig fahren, dass er jederzeit anhalten könne – weil stets mit ausparkenden und rückwärtsfahrenden Fahrzeugen zu rechnen sei.

Änderung der Rechtsprechung

Genau in diesem Punkt erfolgte die entscheidende Rechtsprechungsänderung. Denn die Rechtsprechung hat die Grundsätze des Anscheinsbeweises gegen Rückwärtsfahrende erst entfallen lassen, wenn der Rückwärtsfahrende zum Unfallzeitpunkt bereits längere Zeit zum Stehen gekommen war.

Nach dem neuen Urteil des BGH genüge der Kraftfahrer jedoch seiner Sorgfaltspflicht auch dann, wenn er erst kurze Zeit zum Stillstand gekommen sei. Denn wenn er so vorsichtig gefahren sei, dass er angehalten habe, hätte dieser Verkehrsteilnehmer die erforderliche Sorgfalt walten lassen.

Insoweit konnte der Sachverhalt jedoch nicht hinreichend aufgeklärt werden.

Sachverhaltsermittlung

Der BGH lehnt daher mit sauberer juristischer Argumentation die Grundsätze des Anscheinsbeweises ab, weil ein Anscheinsbeweis nur dann gelte könne, wenn das feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür sei, dass einen Verkehrsteilnehmer das Verschulden an dem Unfall treffe. Soweit der Sachverhalt zwar hinsichtlich der Rückwärtsfahrt – dem „Kerngeschehen“ – feststehe, reiche dies noch nicht aus, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt seien, die als Besonderheiten gegen die Typizität des Anscheinsbeweises sprechen.

Die Tragweite dieses Urteils wird sich in näherer Zukunft zeigen. Denn nun wird mittels Zeugen oder Kollisionsgutachten nachzuweisen sein, ob eines der Fahrzeuge – auch nur für kurze Zeit – bereits gestanden hatte.


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